Helix
Sie ins Krankenhaus bringen soll, aber ich bin sicher, dass es nur eine schwere Angina Pectoris und kein weiterer Herzinfarkt war. Ihr Herz klingt gut, Ihr Blutdruck ist stabil, und Ihr Puls ist kräftig.« Sie hebt die Decke und schlüpft wieder neben ihm ins Bett. »Ich glaube, Sie sind aufgewacht, weil Sie einen Albtraum hatten.«
Er dreht sich um und sieht sie im Mondlicht an. »Es war nur ein Traum.«
Dann erinnert er sich an das schreckliche Zischen des Sauerstoffs, der aus der Raumstation entwichen ist. »Ein Albtraum«, berichtigt er sich. Wieder schaut er zur selbst leuchtenden Uhr.
»Heute ist Silvester«, flüstert Vasilisa. »Ich glaube, Sie wissen, wie wichtig dieser Feiertag in Russland ist – eine Kombination Ihres Weihnachtsfests und des Neujahrstages und anderer Feiertage.«
»Ja.«
»Erinnern Sie sich, dass ich sagte, meine Eltern seien Akademiker? Philosoph und forschende Mathematikerin?«
»Ja.«
»Aber wie die meisten Russen sind sie abergläubisch. Meine Mutter hat mich den alten Brauch gelehrt, am Silvesterabend drei Zettel unter das Kopfkissen zu legen. Einer soll die Aufschrift ›Gutes Jahr‹ tragen, der zweite ist für ein schlechtes Jahr, der dritte für ein mittelmäßiges. Nach Mitternacht greife ich unters Kopfkissen und ziehe einen Zettel hervor.«
Roth lächelt über diesen Einfall. Er langt über sie hinweg und nimmt den kleinen Notizblock und seinen silbernen Stift vom Nachttisch. Das letzte beschriebene Blatt enthält Notizen über Gagarins Büro. Er nimmt eine leere Seite, reißt sie in drei Streifen und schreibt »Jahr mit Vasilisa« auf den ersten. Auf den zweiten schreibt er »Jahr ohne Vasilisa«, der dritte Zettel bleibt leer.
»Du forderst das Schicksal heraus, Norman.«
Roth faltet die drei Streifen zusammen und schiebt sie unter das Kopfkissen, das sie sich jetzt teilen. »Du bist abergläubisch, Dr. Iwanowa.« Er küsst sie sehr langsam.
Als der Kuss endet, nimmt sie den Kopf gerade weit genug zurück, um sein Gesicht zu sehen. »Nein«, flüstert sie. »Spirituell. Und sentimental.«
Die Silvesterparty findet in der Datscha des Kosmonauten Viktor Afanasiew außerhalb Moskaus statt. Vasilisa erklärt ihm, Afanasiew sei der letzte Kommandant einer regulären Mir- Besatzung gewesen und habe am 28. August 1999 buchstäblich das Licht ausgeschaltet.
»Viktor ist mein Freund«, sagt sie. »Er erzählte mir, seit die Mir aus der Umlaufbahn abgestürzt ist, habe er seltsame Träume.«
»Was für Träume?«, fragt Roth.
Vasilisa hebt die Hände. »Er träumt davon, unter Wasser auf die Mir zu stoßen, als sei sie die Titanic oder ein anderes untergegangenes Schiff aus der Vergangenheit. Manchmal träumt er auch, er könne die Gesichter toter Menschen sehen, die ihn durch die Fenster der Mir anschauen.«
Roth, der ihr nichts über seine eigenen Träume gesagt hat, dreht den Kopf und starrt sie an, während sie auf der schmalen Straße zwischen den Bäumen durch die verschneite Landschaft fahren.
Roth und Vasilisa treffen zeitig ein, schon um fünf Uhr am Nachmittag, doch es ist bereits dunkel, und ein Dutzend Gäste sind schon da. Drinnen sind große Tische wundervoll dekoriert und mit Essen überladen – Kielbasa, Käse, Gemüse und Dip, Fischfilets, Berge von Kaviar, verschiedene Sorten Zakuski – Vorspeisen, die kaum noch Platz für die Hauptgerichte lassen: Suppen, Salate, Rindfleisch in Streifen, alles eingerahmt von unzähligen Flaschen Wodka und Champagner.
Roth und Vasilisa finden den Kosmonauten und Gastgeber und seine Freunde dennoch draußen am Grill. Roth schätzt die Temperatur auf mindestens 20 Grad unter Null, aber anscheinend macht den Leuten die Kälte nichts aus. Sie grillen Schaschlikspieße mit Lammfleisch, erzählen sich Witze, lachen in der kalten Luft und trinken Wodka.
In den nächsten Stunden wird Roth mehr als einhundert Menschen vorgestellt, und er macht den gleichen Fehler wie viele andere Amerikaner. Er versucht sich die Vornamen zu merken statt den Vornamen plus Patronymikon, um in der unendlichen Abfolge von Namen und Gesichtern etwas Ordnung zu schaffen. Immerhin kann Roth sich an einige Leute erinnern – da ist der Kosmonaut Sergei mit seiner Frau Yelena; Tamara, das attraktive Medium aus Moskau, das die beinahe verhängnisvollen Probleme auf Wasily Tsibliyews Mir- Mission vorhergesagt hat (sie konnte sogar den Tag der Kollision zwischen der Mir und der Versorgungsrakete vorhersagen, meint Vasilisa); Viktor, der
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