Helix
Norman und Sarah unzertrennlich.
Am letzten Abend am Strand, bevor die Familien in ihre Heimatorte zurückkehren, in ihre getrennten Wohnviertel, in ihre unterschiedlichen Schulen, fasst Sarah Normans Hände, und sie knien zusammen im kühlen Sand. Über dem Leuchtturm steht der Vollmond am Himmel. Leise schwappt die Brandung. Die Glocken der kleinen Boote und die dunkleren Glocken der Kanalbojen klingeln und klimpern im Tanz der Wellen.
Sie küsst ihn. Er ist so überrascht, dass er sie nur anstarren kann. Sie nimmt sein Gesicht in die von den Wellen kühlen Hände und küsst ihn noch einmal.
Ernsthaft und ohne zu lachen steht sie auf und zieht den von der Sonne gebleichten Badeanzug aus. Sie dreht sich um, die Streifen weißer Haut auf ihren Schulterblättern und ihrem Rücken heben sich bleich im Mondlicht ab, und watet ins Wasser. Sie schwimmt zur Badeinsel hinaus.
Der Junge zögert einen Moment, dann steht auch er auf und zieht die Badehose aus. Der Mond berührt seine glatte, nackte Haut. Auch er schwimmt hinaus.
Auf der sich leicht wiegenden Badeinsel liegen sie auf dem Rücken, die Beine in entgegengesetzte Richtungen ausgestreckt, die Köpfe einander berührend. Als schwebe er in der Luft darüber, kann der Mann sich in der Erinnerung sehen, den nackten Jungen und das Mädchen, er noch eher ein Kind als sie, ihre Brüste kleine Knospen, die sich im Mondlicht abzeichnen, und die ersten dunklen Punkte in ihrem Schritt.
Eine Weile reden die beiden kein Wort. Dann hebt das Mädchen beide Arme, nimmt ohne hinzusehen die Hände nach hinten und macht eine Geste wie eine Ballerina. Der Junge hebt die Arme über den Kopf, sieht den Mond an, und ihre und seine Finger verflechten sich.
»Im nächsten Sommer«, sagt sie, und in der Brandung ist ihre Stimme kaum zu verstehen.
»Im nächsten Sommer«, verspricht er.
»Mr. Roth«, sagt Vasilisa beim Frühstück, »Sie sind ein Romantiker.«
»Wenn Sie meine Romane gelesen oder mit meinen drei Exfrauen gesprochen hätten, wären Sie anderer Meinung«, entgegnet Roth.
»Ich habe Ihre Bücher gelesen«, sagt Vasilisa. Sie lächelt leicht. »Und ich habe die Geschichten über Ihre drei Exfrauen gehört.« Nach kurzem Zögern fügt sie hinzu: »Wäre diese Kindheitsgeschichte eine russische Erzählung, dann hätte sie kein Happyend.«
»Sie hat auch keines«, verspricht Roth.
Er erzählt ihr, wie der Junge den Winter verbringt. Die Kinder haben ihre Adressen nicht ausgetauscht, sie haben sich nicht versprochen zu schreiben, sie wollten ihre Freundschaft für den Sommer, den Strand und das Wasser aufheben. Er erzählt ihr von den Monaten des Wartens, von der schmerzlichen Sehnsucht, die sich in den Wochen und Tagen, bevor die Familien zu den Sommerhäusern auf der Insel zurückkehren können, bis fast zum Wahnsinn aufbaut.
Kaum dass der Junge aus dem Auto seiner Eltern entlassen ist, rast er zum Ferienhaus der Klugmans. Er klopft an die Küchentür. Eine fremde Frau öffnet ihm – es ist nicht Sarahs Mutter.
»Ach, die Klugmans«, sagt die Frau. »Sie haben uns in diesem Sommer ihr Haus überlassen. Sie hatten im Winter einen Trauerfall, und sie kommen nicht wieder hierher ins Ferienhaus. Ihre Tochter ist an Lungenentzündung gestorben.«
»Sehr russisch«, meint Vasilisa. »Aber warum erinnere ich Sie an dieses Mädchen? Sehe ich denn aus wie sie?«
»Überhaupt nicht«, sagt Roth.
»Oder rede ich wie sie?«
»Nein.«
»Oder stellen Sie sich vor, Sarah wäre Ärztin geworden, wenn sie überlebt hätte? Oder wollte sie Kosmonautin werden?«
»Nein, das weiß ich alles nicht.« Roth hebt die Hände und Schultern und imitiert Vasilisas anmutiges Achselzucken.
Als er die Hand wieder auf den Frühstückstisch legt, streckt Vasilisa ihre Hand aus und legt sie auf seine.
»Jetzt verstehe ich es«, sagt sie.
Am Tag vor der großen Silvesterparty und zwei Tage vor Roths Rückflug fahren sie eine Autostunde aus Moskau heraus nach Nordosten zum TsPK, dem Gagarin-Trainingszentrum für Kosmonauten und Sitz des Kosmonautencorps, das von allen beim TsUP und bei der NASA nur Star City genannt wird.
»Norman«, sagt Vasilisa, als sie die Autobahn verlassen und auf einer einsamen zweispurigen Straße durch einen dichten Kiefern- und Birkenwald fahren, »ich habe Ihre Bücher gelesen. Sie sind sehr düster. Einer unserer Kritiker nannte Ihr letztes Buch ›eine Kabbala über den Tod‹. Vielleicht ist diese Schwermut der Grund dafür, dass Ihre Romane in Russland
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