Hello Kitty muss sterben
Bewerbungsgesprächs entgangen war: ein Familienfoto auf dem Sideboard hinter seinem Schreibtisch.
Ein lächelndes Foto einer Frau fortgeschrittenen mittleren Alters mit grauen Locken, die zwei sommersprossige Frauen Mitte zwanzig umarmte. Jacks Ehefrau, Mrs Betner. Und ihre zwei Töchter. Seine Familie. Und ein Foto eines Golden Retrievers, seines Hundes.
Aber keine Fotos von Mei. Seiner Geliebten.
Ach was!
Ich wollte Jack schon fragen, ob es Mei gut gehe. Doch ich überlegte es mir anders und überließ es ihm, das Gespräch zu lenken.
»Na, Fiona, wie war Ihr letztes Wochenende in Freiheit?«
»Entspannend und frei. Aber ich bin zur Arbeit bereit.«
»Haben Sie etwas Schönes unternommen?«
Jack legte den Köder aus. Er wartete ab, ob ich anbeißen würde.
»Nicht wirklich. Habe bloß ein bisschen abgeschaltet und Zeit mit einem alten Freund verbracht. Ich wollte mich für meinen großen Tag ausruhen.«
»Schön für Sie. Ich habe Samstag mit meiner Frau und den Kindern verbracht. Kriege die Mädels jetzt nicht allzu oft zu Gesicht. Die jungen Leute heutzutage scheinen ihr eigenes Leben zu haben. Und Sonntag war ich den ganzen Tag hier und habe gearbeitet. Der Teufel schläft nicht.«
Er stieß ein unbehagliches Lachen aus und starrte mich dann an. Unerbittlich. Ich kapierte.
»Wow! Sie müssen ja viel zu tun haben. Apropos, meine Aufträge?«
Jack strahlte. Er schleuderte mir zwei Fusionsverträge hin. »Das sollte sie reichlich auf Trab halten, Fiona.«
Sean hatte recht. Ich brauchte mir keine Sorgen zu machen. Jack war ein Riesenarschloch. Und bei einem Arsch loch kann man sich immer darauf verlassen, dass es ein Arschloch bleibt.
Am Abend fing ich mein neues tägliches Ritual an und las die Nachrichten. Nachrichtensprecher mit ihren perfekten TV-Haaren, Make-up und Anzügen konnte ich nicht ausstehen. Ihr Colgate-sauberes Lächeln. Die blinkenden Logos der Fernsehsender. Die übertriebene Lautstärke der Werbesendungen. Also las ich meine Nachrichten online, im gepriesenen Internet, auf SFGate.com.
Unter dem Nachrichtenticker entdeckte ich einen interessanten Artikel mit der Überschrift:
Asiatin in Bucht von SF ertrunken: Eine unbekannte asiatische Frau, unter zwanzig, wurde heute am frühen Morgen von Seglern in der Bucht von San Francisco tot aufgefunden. Ermittler der Polizei gehen davon aus, dass die junge Frau nach dem Konsum einer großen Menge an Alkohol und unbekannten Beruhigungsmitteln vermutlich von einem Boot fiel und ertrank. Die Polizei sucht nach möglichen Zeugen des Vorfalls.
In dem Artikel ging es weiter mit der gewöhnlichen Debatte, dass übermäßiges Trinken eine Gefahr beim Segeln darstelle, dass junge Leute heutzutage zu viel Alkohol tränken, dass Eltern genauer auf das Partyverhalten ihrer Kinder achten sollten und dass die Polizei härter gegen das Trinken von Jugendlichen unter dem gesetzlichen Mindestalter für Alkoholkonsum vorgehen müsse.
Doch das interessierte mich nicht im Geringsten.
Also hatte Jack alles in Ordnung gebracht, indem er Mei von seinem Boot geworfen hatte. Niemand wollte eine tote Hello Kitty voller Wodka und Flunies. Niemand außer den Fischen.
Nur nichts vergeuden.
»Siehst du? Ich hab dir doch gesagt, dass nichts passieren wird.«
»Ja, Sean. Sieht aus, als hättest du recht gehabt.«
»Wie war dein erster Arbeitstag?«
»Ich bin immer noch hier.«
»Fi, es ist fast elf Uhr.«
»Mhm. Und ich bin immer noch hier. Jack hält mich ziemlich auf Trab.«
»Du weißt ja, was man über Müßiggang und den Teufel sagt.«
»Ja, klar.«
Abrechnen, abrechnen, abrechnen.
Das war alles, was ich wusste. Nichts von einer Segelpartie nach Angel Island. Nichts über Jack in einem Hawaiihemd voller Tukane. Nichts über Apfel-Preiselbeer-Saft und Wodka. Nichts über Mei.
Und ich wusste außerdem nicht das Geringste über Krabbenfischerei.
»Don nimmt dich am Wochenende zum Krabbenfischen mit in die Bucht von San Pablo, Fiona.«
»Ist das dein Ernst, Dad? Ich würde wirklich lieber nicht mitfahren.«
»Tja, schade. Du hast schon Ja gesagt. Und ich habe es ihm schon ausgerichtet.«
»Dad, ich muss am Wochenende arbeiten. Neue Stelle. Will nicht, dass der neue Chef mich für faul hält.«
»Du kannst dir einen Abend freinehmen. Ihr fahrt Freitagabend.«
»Freitagabend?«
»Ja, das habe ich gesagt, Fiona.«
»O Gott.«
»Man weiß nie, vielleicht gefällt er dir«, warf meine Mutter ein.
»Ich habe ihn bereits kennengelernt, und er gefällt
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