Hell's Angels (German Edition)
Verlierern. Ihr Hintergrund ist auf erdrückende Weise banal. Als einzelne Menschen sind sie wie Millionen andere auch. Aber ihre kollektive Identität übt eine besondere Faszination aus, die
so offensichtlich ist, dass sogar die Presse sie entdeckt hat, wenn auch nicht ohne Zynismus. Im Zuge ihres rituellen Flirts mit der Realität hat die Presse die Angels mit einer Mischung aus Ehrfurcht, Humor und Entsetzen dargestellt – und das stets mit der sklavischen Hingabe an den Publikumsgeschmack gerechtfertigt, den die meisten Journalisten so verwirrend und verachtenswert finden, dass sie die Aufgabe, ihn zu verstehen, längst an eine Hand voll Demoskopen und andere »Experten« delegiert haben.
Die weit reichende Anziehungskraft, die von den Angels ausgeht, ist ergründenswert. Im Gegensatz zu den meisten anderen Rebellen haben die Angels die Hoffnung, die Welt werde sich ihretwegen ändern, längst aufgegeben. Aufgrund von Erfahrungen gehen sie davon aus, dass die Leute, die das gesellschaftliche Gefüge am Laufen halten, nur wenig Verwendung für Motorrad-Outlaws haben, und sie haben sich damit abgefunden, Verlierer zu sein. Doch statt einer nach dem anderen in aller Stille abzukacken, haben sie sich in blinder Loyalität zusammengeschlossen und die Gesellschaft auf Gedeih und Verderb hinter sich gelassen. Vielleicht wissen sie keinen Ausweg, aber sie stehen noch aufrecht da. Während eines ihrer wöchentlichen Treffen dachte ich eines Abends an Joe Hill, wie er in Utah vor das Exekutionskommando geführt wurde und seine letzten Worte sprach: »Trauert nicht. Baut weiter auf.« Man kann getrost davon ausgehen, dass kein Hell’s Angel jemals von Joe Hill gehört hat und einen Wobbly nicht von einem Buschmeister unterscheiden könnte, aber ihre Einstellung hat große Ähnlichkeiten. Die Industrial Workers of the World hatten Pläne für eine zukünftige Gesellschaft, wohingegen die Angels dem gesellschaftlichen Gefüge nur trotzen wollen. Die Angels reden nicht darüber, »eine bessere Welt aufzubauen«, aber ihre Reaktionen auf die Welt,
in der sie leben, wurzeln in der gleichen anarchischen Entschlossenheit, mit der sich die Wobblys schließlich den bewaffneten Zorn des Establishments zuzogen. Da ist die gleiche Loyalität bis in den Tod, die gleichen gruppeninternen Rituale und Spitznamen und vor allem das gleiche Gefühl, einen nicht enden wollenden Krieg gegen eine ungerechte Welt zu führen. Die Wobblys waren Verlierer, wie auch die Angels Verlierer sind – und wenn heute in diesem Land jeder Verlierer ein Motorrad fahren würde, müsste man das ganze Highwaysystem umgestalten.
Es gibt einen entscheidenden Unterschied zwischen den Begriffen »Verlierer« und »Outlaw«. Der eine ist passiv und der andere aktiv, und der Hauptgrund, warum die Angels bei der Presse so beliebt sind, ist der, dass sie die Tagträume von Millionen Verlierern ausleben, die keine trotzigen Abzeichen tragen und es nicht schaffen, ein Outlaw zu sein. In den Straßen jeder Stadt wimmelt es von Männern, die alles Geld, das sie nur beschaffen können, dafür geben würden, sich verwandeln zu können – und sei’s auch nur für einen Tag – in einen jener langhaarigen Brutalos, die Polizisten fertig machen, verängstigten Barkeepern Gratisgetränke abpressen und, nachdem sie die Tochter des Bankiers vergewaltigt haben, auf schweren Motorrädern aus der Stadt donnern. Selbst Leuten, die der Meinung sind, die Angels gehörten allesamt eingeschläfert, fällt es leicht, sich mit ihnen zu identifizieren. Sie empfinden dabei, wie widerwillig auch immer, eine Faszination, die an geistige Masturbation grenzt.
Die Angels lassen sich nicht gern als Verlierer bezeichnen, haben aber gelernt, damit zu leben. »Ja, ich glaube, ich bin wohl einer«, sagte einmal einer. »Aber du siehst hier einen Verlierer vor dir, der einen mordsmäßigen Abgang hinlegen wird.«
22
Wer sich zum Tier macht, befreit sich von dem Leid, ein Mensch zu sein. – Dr. Johnson
In der Nachbarschaft wimmelte es mit einem Mal von aufgeregten, sensationslüsternen Menschen. Hysterische Frauen drängten heran, in nahezu sexueller Ekstase kreischend, und kratzten und schlugen die Agenten und Polizisten bei dem Versuch, zu dem Leichnam zu gelangen. Eine dickbrüstige Frau mit dünnem rotem Haar durchbrach die Absperrung, tunkte ihr Taschentuch in das Blut, hielt es dann mit beiden Händen fest an ihr verschwitztes Kleid und stöckelte auf der Straße davon ...
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