Hell's Kitchen
Büchern vollgestopften Schrank zu lesen, bis Mona aufwachte. Dann könnten wir zusammen bei Pete’s frühstücken gehen - und würde Pete sich darüber nicht wundern, und würde Wanda dann nicht eine Menge zu tratschen haben?
Ich drehte mich um und sah mir die Auswahl in den Regalen an. Aber irgend etwas lenkte mich ab, etwas auf der Straße.
Was ich da sah, war verzweifelt und mitleiderregend; soviel wußte ich, auch wenn ich im morgendlichen Dämmerlicht von meinem Aussichtspunkt sechs Stockwerke hoch keinen besonders guten Blick hatte. Aber trotzdem konnte ich die Beklommenheit spüren.
Augen jetzt.
Nur Augen unter der Krempe eines alten Hutes. Müde Augen, die die erwachende Straße durch einen V-förmigen Spalt in der niedrigen Betonmauer beobachteten, die die Gleisschlucht unterhalb der Straße überspannte; Augen, die jemandem gehörten, der auf den verstohlenen Augenblick warten mußte, von der Schluchtseite aus die Mauer überspringen zu können.
Ein Kopf erhob sich.
Ich sah Teile eines Gesichtes. Das Gesicht eines jungen Mannes, stumpf und bräunlich wie der Beton. Irgend etwas daran - der Sitz des Hutes vielleicht, das derbe Kinn, die fleischige Stirn, ich konnte nicht genau sagen, was es war -ordnete ihn in die Kategorie des großen ruhigen Jungen ein, der zehn Jahre im Haus herumtrampelt, bis er eines Morgens aufsteht, sich wäscht und anzieht, die Klinge ein paarmal über den Wetzstein zieht und dann die Familie und die halbe Nachbarschaft würfelt.
Ich hatte das Gesicht auch früher schon gesehen.
Ich hatte es erst kürzlich gesehen.
Ich schnappte meine .38er und meinen Mantel und rannte hinunter auf die Straße.
15
Mehrmals wäre ich beinahe auf den schmalen, knarrenden Stufen der Länge nach hingeknallt. Und bei dem Versuch, in diesem gespenstischen Treppenhauslicht mein Gleichgewicht zu behalten, veranstaltete ich ein ziemliches Gepolter. Daher ist es durchaus möglich, daß der große, ruhige, schwerfällige Junge mich schon gehört hatte, lange bevor er mich sah. So still war es draußen auf der Straße geworden.
Und vielleicht war das auch der Grund, warum der Junge mit dem altmodischen Hut direkt zu mir herübersah, als ich die Haustür erreichte und durch die trübe Glasscheibe in der oberen Hälfte der Tür hinausschaute, bevor ich sie aufdrückte. In diesem zeitlosen Augenblick, über all das hinweg, was uns trennte, stellten wir uns stumm einander vor - der Jäger und die Beute.
Natürlich war es der Junge, der erst gestern morgen oben in Harlem versucht hatte, Father Love abzuknallen - und das direkt vor meiner Nase. Der Junge, auf den ich nicht schießen konnte, weil ich dazu keine Zeit hatte, während Father Love vor mir im Schnee lag und sein Hals von Kugeln aufgerissen war; der Junge, der über den Zaun am Ende der Gasse neben der Kirche geklettert und im laublosen Dickicht verschwunden war; und der Junge, der mich dort mit den Händen voll Samuel Watermans heraussprudelndem Blut zurückgelassen hatte.
Und er war auch der Junge, auf den die Beschreibung genau paßte, die Aiello bekommen hatte - von dem Burschen, der in der Nähe des Hauses herumgelungert hatte, in dem Buddy-O ermordet worden war, oben in seinem Apartment über Runyon’s Pinball Shop und direkt gegenüber meiner eigenen Wohnung...
Runyon hat ihn richtig gut gesehen, weil sich der Junge doch den halben Freitag draußen auf der Straße vor dem Laden herumgetrieben und seine Nase einen großen Teil dieser Zeit gegen die Scheiben gedrückt und die Flipperautomaten angestarrt hat. Besonders die mit den nackten Ladies, die aufleuchten, wenn man es schafft, die Stahlkugel genau auf den Spitzen der alten Melonen landen zu lassen.
Runyon sagt, er sei schwarz, sehr hellhäutig, und er hätte blaue Augen. Also würde man ihn sofort wiedererkennen, wenn man ihm begegnete. Ein großer Junge, eins neunzig oder sogar noch größer, und, wie ich schon sagte, er ist schwerfällig... Er hat so einen altmodischen Anzug getragen, und Mantel und Hut, so als hätte er alles von der Goodwill... Was hast du gemacht, Hock, hast du ihm ein paar von deinen Klamotten geliehen?...
Kein Irrtum möglich.
Und kaum drückte ich die Tür auf, verschwand der Junge auch schon hinter der Mauer. Wie eine große Ratte rutschte er nach unten außer Sicht.
Ich löste den Sicherheitshaken an meinem Gürtelhalfter und sprintete über die Straße, wich Taxen und knöchelbrechenden Schlaglöchern aus. Ich zog meine .38er, als ich den
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