Helmut Schmidt - Der letzte Raucher seinen Bewunderern erklärt
britischen Verständnis von Demokratie keinen Hehl. Helmut Schmidt teilte dieses Verständnis, er bedauert es bis heute, dass seine Initiative in der Großen Koalition von 1966 an, das Mehrheitswahlrecht einzuführen, gescheitert ist. Das Mehrheitswahlrecht hat eine britische Tradition und etabliert zwei starke Parteien, die abwechselnd die Regierung stellen. Manchmal braucht es zur Mehrheitsbildung eine dritte Partei, doch sie ist nicht systembedingt ein „Zünglein an der Waage“ wie beim deutschen Verhältniswahlrecht. Sebastian Haffner bezeichnete die Rolle der FDP in der alten Bundesrepublik als „Anomalie des gegenwärtigen Parteiensystems (…), dass diese kleinste Partei (…) darüber entscheidet, wer in der Bundesrepublik regiert, die SPD oder die CDU/CSU“. Für diesen Satz wäre Sebastian Haffner die Zustimmung von Helmut Schmidt sicher. Die Rolle der FDP hat er schon immer misstrauisch beäugt. Mit dieser Partei ist er „fertig“, seit er 1982 mit ihr eine persönlich und politisch schmerzliche Erfahrung gemacht hat, ihre „Wende“ hin zur CDU/CSU.
Den demokratischen Frieden in der alten Bundesrepublik förderte weiter, dass die beiden „Volksparteien“ SPD und CDU/CSU tatsächlich zu dem geworden waren, was sie bezeichnen – keine Parteien mehr für ein bestimmtes Milieu, sondern offene Foren für unterschiedliche Schichten und Gruppen. Die SPD wurde inzwischen außer von Arbeitern auch von Angestellten und Beamten gewählt, unter den Beamten vorzugsweise von Lehrern. CDU/ CSU sprachen nicht mehr nur das bürgerliche Milieu, die Bauern und die Rentner an.
Als Volksparteien für unterschiedliche Gruppen gelang es SPD wie CDU/CSU, zu einem Grundkonsens über wichtige Fragen zu finden. Zu diesem Grundkonsens gehörte die Integration der Bundesrepublik im atlantischen Bündnis und in der Europäischen Union oder die Offenheit für moderne Technik, etwa die friedliche Nutzung der Kernenergie. Äußeres Zeichendes sicherheitspolitischen Konsenses war, dass Bundeskanzler Helmut Kohl die von der Vorgängerregierung beschlossene Raketen-„Nachrüstung“ umgesetzt hat.
Der „Kalte Krieg“ machte die sicherheitspolitische Lage der alten Bundesrepublik prekär, doch er schuf auch ein Freund-Feind-Bild, das die Politik gern transportierte. Es gab in der Bonner Politik eine gemeinsame Vorstellung davon, was „links“ und was „rechts“ ist, was Recht und Unrecht, Humanität und Vergehen gegen die Menschlichkeit bedeuten. Die Irrtümer, die sich in diese Vorstellung einschlossen, waren auch Allgemeingut.
Als die sogenannte Friedensbewegung Ende der siebziger Jahre den Spruch „Lieber rot als tot“ plakatierte (also lieber die Bundesrepublik an den „Ostblock“ verlieren als sie einem atomaren Krieg opfern), verstanden das Helmut Schmidt und Helmut Kohl gleichermaßen als Angriff auf den demokratischen Grundkonsens.
Kein Zweifel, das Schiff „Bundesrepublik Deutschland“ befand sich, als Helmut Schmidt die Regierung führte und Sebastian Haffner vor Schmidts zweiter Wiederwahl das hier zitierte Buch schrieb, in ruhigem Fahrwasser. Die Hauptstadt Bonn galt zwar noch immer als provisorisch, viele Tausend NATO-Soldaten standen auf westdeutschem Boden, und die Wunde der deutsch-deutschen Teilung brach gelegentlich auf (einmal im Jahr, am Gedenktag des Aufstands vom 17. Juni).
Die Hoffnung, dass die beiden Deutschlands je wieder zusammenkommen würden, war in der Blütezeit der alten Bundesrepublik, kurz bevor sie unterging, verloren gegangen. Joachim Fest schrieb zwei Jahre vor dem Fall des Eisernen Vorhangs in einem Essay, eine Lösung sei, wie die Dinge lägen, weniger als Wiedervereinigung im geschlossenen Staatsverband vorstellbar. „Eher wird man Fantasie und politischen Willen auf Zwischenformen zu richten haben.“
Je länger die alte Bundesrepublik zurückliegt, desto heftiger weckt sie nostalgische Gefühle. 2010, zum 20. Geburtstag der deutschen Einheit, stimmte der Journalist Andreas Öhler im „Rheinischen Merkur“ eine „heitere Ode auf die alte Bundesrepublik(einschließlich ihrem Appendix Berlin-West)“ an. Die Bundesrepublik hat zwar, so der Autor sinngemäß, den Kalten Krieg gewonnen, da die DDR ihr beitreten musste und nicht umgekehrt, doch der Preis dafür war ihr eigener Untergang. Im neuen, vereinigten Deutschland sei von ihren charmanten Eigenschaften nichts geblieben.
Andreas Öhler nennt sie „eine Kleinbürgerrepublik vielleicht“ mit dem Charakter
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