Helmut Schmidt - Der letzte Raucher seinen Bewunderern erklärt
sogar entfremdet“, konstatiert der Politikwissenschaftler Paul Nolte 2010 im „Rheinischen Merkur“. Die politische Kultur der alten Bundesrepublik erklärt er schlichtweg für tot, ebenso die Kultur der westdeutschen Gesellschaft und ihre Mentalitäten.
Der politische Stil sei härter und direkter geworden. „Unter ihrer weithin gleichgebliebenen Oberfläche ist die alte Bundesrepublik nach 20 Jahren nicht mehr wiederzuerkennen.“ Arbeitsplätze und Familienstrukturen, Hochschulbildung und soziale Sicherung seien kräftig durcheinandergewirbelt worden. Dabei habe nicht die Wiedervereinigung, sondern die Globalisierung Regie geführt, „im Verein mit dem Internet und einem demografischen Wandel, dessen Ursachen weithin vor 1989/90 liegen“.
Paul Nolte charakterisiert die neue, die Berliner Republik als eine, die größeren Kräften ausgesetzt ist. Diese Kräfte hätten „neue Probleme erzeugt und neue Chancen eröffnet“. Wahrscheinlich meinte er, ohne das Wort zu gebrauchen, dass Deutschland mit seiner Vereinigung „erwachsen“ geworden ist. Erwachsensein bedeutet bekanntlich frei und autonom, aber auch verantwortlich, ja haftbar für die eigenen Entscheidungen zu werden.
„Begreifen wir in Deutschland, dass angesichts von Globalisierung, von Europäisierung, von demografischer Entwicklungdie Politik unter neuen Bedingungen stattfindet?“, fragte Franz Müntefering in einem „Spiegel“-Gespräch 2004 und ergänzt: „Wir leben nicht mehr in einer geschlossenen Volkswirtschaft.“
Die Deutschen begreifen es offensichtlich nicht, denn sie wenden sich von den Akteuren dieser Politik immer mehr ab. Ihre Beteiligung bei Wahlen sinkt, und viele von denen, die noch wählen gehen, schwächen die Volksparteien und machen Protestparteien wie Die Linke stark.
Die Bürgerinnen und Bürger der alten Bundesrepublik haben ihre Spitzenpolitiker (keine Politikerinnen, die kamen damals noch nicht in die ganz hohen Ämter) ziemlich ernst genommen. Heute tun sie es nicht mehr. So ist es – wenigstens nach zwei „Spiegel“-Umfragen 2010 – nicht Christian Wulff, sondern der Fernsehjournalist Günther Jauch, von dem sich die meisten Deutschen repräsentiert fühlen. Arbeitsministerin Ursula von der Leyen gilt vielen aktuell als Lieblingspolitikerin, doch auch ihre Ahnin als Protagonistin der Frauenbewegung, Alice Schwarzer, schneidet gut ab. Alice Schwarzer wird aus vergleichbaren Gründen hoch geschätzt wie Helmut Schmidt – sie besitzt Format und Charisma und blickt auf einen nicht immer leichten, aber immer autonomen Lebensweg zurück. Auch bei ihr hat sich die Erde lange drehen müssen, bis sie Kultstatus erlangte.
Der Verdruss über die Politik lässt sich nicht allein ihren Akteuren anlasten. Politik ist schnelllebiger geworden seit der Zeit, als Helmut Schmidt Bundeskanzler war. Helmut Kohl war 23 Jahre jung, als er Bundeskanzler Konrad Adenauer zum ersten Mal besuchen durfte. Noch heute berichtet er mit Staunen über die – im Vergleich zu späteren Zeiten – Gemächlichkeit, mit der ein westlicher Regierungschef in den fünfziger und sechziger Jahren regiert hat. Er kommunizierte, wie man heute sagt, mit einer Handvoll Staatschefs, umgab sich mit einer Handvoll Mitarbeiter und suchte das Gespräch mit einer Handvoll Journalisten. Schon zur Kanzlerzeit von Helmut Schmidt waren die Arbeitsbedingungen völlig andere. Die moderne Technik hat die Welt binnen weniger Jahrzehnte vernetzt. Die Möglichkeit einer immer schnelleren Kommunikation schuf den Bedarf nach dieserimmer schnelleren Kommunikation. Angela Merkel macht am effektivsten ihre Arbeit, wenn sie gleichzeitig mit Leuten spricht, einen Brief diktiert, ein Fernsehprogramm verfolgt, Radio hört und eine SMS schreibt. Und bei der Gelegenheit soll gleich ein Statement für den Internet-Auftritt der Bundesregierung entstehen!
Seit der Zeit, als Helmut Schmidt Bundeskanzler war, hat die Komplexität des Regierungshandelns zugenommen, und das massiv. Auch die persönliche Belastung für einen Amtsinhaber ist exorbitant gestiegen. Gespräche, Reisen und Konferenzen: das alles vollzieht sich in immer schneller werdendem Tempo. Schon Helmut Schmidt erlebte einen sichtbaren gesundheitlichen Verschleiß im Amt, im Herbst 1982, bei seiner parlamentarischen Abwahl, wirkte sein Gesicht schmaler denn je, die Haare waren ergraut. Auch Helmut Kohl konnte man die persönliche Veränderung im Amt, das er so lange ausgeübt hat, ganz deutlich ansehen. 1982 wirkte
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