Helmut Schmidt - Der letzte Raucher seinen Bewunderern erklärt
pragmatischer Bescheidenheit. Weltoffen wurde sie durch die westlichen Besatzungsmächte, deren Soldaten nicht nur Geld mitbrachten, sondern ihr Anderssein, ihre eigene Kultur. „In der engen Provinz blitzte plötzlich die Vorstellung von unendlichen amerikanischen Weiten auf, die zum Aufbruch in eine neue Zeit riefen.“ In den seligen Bonner Zeiten sei noch der christliche Glaube mit einem liberalen Geist eine glückliche Bindung eingegangen.
Einen eigenen Abschnitt ist dem Autor der ehemalige Sonderstatus von Berlin (West) wert, das mit der Bundesrepublik in Form eines breiten, plumpen Streifens verbunden war – jedenfalls auf der Deutschlandkarte der allabendlichen „Tagesschau“. Dieser historisch seltenen, bizarren, glückseligen Insellage müsste man eine Oper widmen! „Ausländer“, wie man damals noch unbefangen sagen durfte, zogen nicht nach Berlin (West), weil sie den Einmarsch der Kommunisten täglich für möglich hielten. Junge Männer machten sich allerdings nach Berlin (West) auf, um dem Wehr- oder Zivildienst zu entgehen. Schwäbische Lehrerinnen gingen dorthin, weil sie in Berlin (West) – und eben nicht in Baden-Württemberg – eine Stelle bekamen.
Zu meinen prägendsten Berlin-Erinnerungen gehört ein Besuch in der Privatwohnung von Albrecht Metzger, dem langjährigen Moderator der WDR-Musiksendung „Rockpalast“. Er lebte unweit der Mauer, man stieg, um dorthin zu kommen, an der letzten Station vor der Grenze, „Schlesisches Tor“, aus. Auf dem Fußweg von dort zu Metzgers Wohnung war – ja was denn? Türkischer Basar? Das Multikulti-Land Deutschland, das so noch nicht genannt wurde? Ein Teil der herrschaftsfreien Zone Berlin (West)?
„Ein solches Eldorado der Freizügigkeit hat die Welt seitdem nicht mehr gesehen“, bestätigt Andreas Öhler Berlin (West) aus eigener Erinnerung: Wer den Geist dieses Eldorados noch einmal nachhören möchte, ziehe das Stück „Berlin“ der Neue-Deutsche-Welle-Gruppe „Ideal“ auf seinen MP3-Player.
Helmut Schmidt als ein wichtiger Protagonist jener Zeit hat an der Verklärung der alten Bundesrepublik durchaus Anteil. Die heutigen Politiker-Generationen beurteilt er überwiegend negativ. Davon wird im nächsten Kapitel noch ausführlich die Rede sein.
Hinzu kommt, dass sich über die Konflikte der alten Bundesrepublik Puderzucker gelegt hat. Die Angehörigen der 68er-Generation urteilen milder denn je über die Vertreter der Kriegsgeneration. Und auch ein anderes Schisma, durchaus auch ein Schisma zwischen Generationen, besteht nicht mehr: Der vorletzte und der letzte Kanzler der alten Bundesrepublik haben ihr Kriegsbeil begraben. 1998, kurz vor seiner Abwahl, bat Helmut Kohl seinen Amtsvorgänger zu einem Gespräch in das Bonner Palais Schaumburg. Vordergründig ging es darum, einen Streit aus den siebziger Jahren über das Amtsverständnis eines Bundeskanzlers beizulegen – Helmut Kohl hatte vom damaligen Amtsinhaber „geistig-moralische Führung“ verlangt. Helmut Schmidt, noch persönlich vom Missbrauch geistiger Führung im Nazideutschland geprägt, wies diese Forderung stets zurück. Zu diesem Thema verläuft das Gespräch von 1998, das der „Zeit“-Journalist Christoph Bertram moderierte, wie folgt:
Helmut Schmidt: „Sie haben damals verlangt, Herr Kohl, die Regierung solle geistig-moralische Führung ausüben, und ich habe entgegnet: Nein, das ist nicht meine Aufgabe. (...) Soweit wir geistige und moralische Führung ausüben, haben wir das Grundgesetz und die Grundrechtsartikel im Grundgesetz (...). Ich glaube heute, dass ich untertrieben habe, aber ich glaube auch, dass Herr Kohl damals übertrieben hat.“
Helmut Kohl: „Da sind wir uns sofort einig – auf Basis dieser Definition.“
Christoph Bertram: „Bevor Sie sich ganz einigen ...“
Helmut Schmidt: „... das ist nicht zu befürchten.“
Aber es ging bei diesem Treffen doch um mehr, es ging um einen Friedensschluss zwischen diesen beiden grundverschiedenen Alpha-Tieren, die sich auf der Bonner Bühne, und besonders als Kontrahenten im Bundestagswahlkampf 1976, nichts geschenkt haben.
2008 kam Helmut Kohl zu Helmut Schmidt in sein Hamburger „Zeit“-Büro. Helmut Schmidt nannte das Treffen lediglich ein „gutes Gespräch“, ohne weiter darauf einzugehen. In einem Interview mit Giovanni di Lorenzo anlässlich von Kohls 80. Geburtstag gab sich Helmut Schmidt kantig und einsichtig zugleich. „Ich habe ihm sicherlich nicht mehr Unrecht getan als er mir“,
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