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Hemmersmoor

Hemmersmoor

Titel: Hemmersmoor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Kiesbye
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Hemmersmoor war arm, und irgendjemand musste für die Ungerechtigkeit in dieser Welt verantwortlich sein, und die Schuld lag nicht bei uns. Die Armut lag nicht an uns. Wir hatten uns nichts vorzuwerfen.
    Nur wenige Leute im Dorf waren je auf dem Gut gewesen, und noch weniger hatten das Große Haus betreten. Doch dieser Umstand gab den Gerüchten die nötige Würze. So hieß es, dass Johann von Kamphoff seinen Vater im Schlaf ermordet hätte, um seine Erbschaft anzutreten. Dass er eine schwarze Frau im Keller versteckt hielt, die er während seiner Jahre im Krieg gefangen genommen hatte. Und immer wieder brachten die Gäste in Fricks Krug das Gespräch auf den wahren Erben. Sie behaupteten, dass Johann einen jüngeren Bruder gehabt hatte, und dass dieser Bruder, gegen den Brauch, das Gut hatte erben sollen. Doch nach dem Tod seines Vaters hatte Johann nicht leer ausgehen wollen und hatte seinen Bruder umgebracht. In einer anderen Fassung der Geschichte, hielt Johann seinen Bruder noch immer gefangen, ganz so wie die schwarze Frau. Doch niemand vermochte sich recht an den wahren Erben zu erinnern, all das war ja noch vor dem ersten Krieg geschehen. Geburtsurkunden wurden in Hemmersmoor nicht aufbewahrt.
    Heute war es jedoch Inge Madelung, nicht der alte Johann von Kamphoff, die wir zunächst auf dem Gut antrafen, und sobald mein Vater aus dem Laster geklettert war, stellte er uns vor. »Schulferien«, murmelte er. »Sind zu Hause nur im Wege.«
    Inge gab uns die Hand, als ob wir schon erwachsen wären. »Ihr müsst mit meinem Friedrich in die Schule gehen«, sagte sie und lächelte.
    »Ja«, sagte Anke. »Wir sind in derselben Klasse.«
    »Wie schön«, sagte die Witwe. »Vielleicht mögt ihr später miteinander spielen.«
    »Vielleicht«, sagte ich ohne Begeisterung, doch mein Vater warf mir einen strengen Blick zu und schickte Anke und mich in den Schuppen, um Harken und Scheren und Eimer zu holen. »Könnt euch nützlich machen«, sagte er, und schon bald rupften wir Mädchen Unkraut aus und harkten die Rasenflächen.
    »Das ist blöde«, sagte Anke, die schon nach kurzer Zeit Blasen an den Händen hatte. »Meine Mutter will heute Plätzchen backen.«
    »Kannst ja nach Hause laufen«, sagte ich und streckte ihr die Zunge heraus.
    »Und dann müssen wir wohl noch mit dem Bastard spielen«, beklagte sie sich.
    »Ja, wirklich blöd«, gab ich ihr recht. Den wahren Grund, warum wir aufs Gut gefahren waren, verriet ich ihr nicht. Meine Mutter hatte mir verboten, auch nur einen Mucks davon zu sagen, aber ihre Ermahnung war überflüssig gewesen. »Wenn der alte Mann kommt, können wir uns davonstehlen«, beschwichtigte ich Anke.
    Im letzten Sommer hatte sich Johann von Kamphoff vielleicht zwei- oder dreimal in der Woche bei uns im Garten blicken lassen, aber seit geraumer Zeit beschwerte sich mein Vater über seine ständige Anwesenheit. »Der schon wieder«, murmelte er, als der alte Gutsbesitzer gegen neun Uhr aus dem Gutshaus zu uns herüber kam. Ihm schienen die Besuche Johann von Kamphoffs nicht zu passen. Und ich merkte, dass sich das Aussehen des Gutsbesitzers verändert hatte. Sein Haar schien stets frisch geschnitten und glänzte ganz ölig, und er trug keine alten, ausgebeulten Hosen mehr. Die Schuhe waren frisch poliert. Er grüßte uns Kinder, und Anke und ich knicksten. Dann wandte er sich der Witwe zu und fragte »Frau Madelung. Wieder fleißig?«
    »Lass uns gehen«, flüsterte ich Anke zu, aber meine Freundin schüttelte nur den Kopf.
    »Was ist los?«, fragte ich, aber noch immer gab sie keine Antwort. Stattdessen starrte sie den alten Mann an, und wann immer er in unsere Richtung schaute, lächelte sie brav. Schließlich bückte sie sich tief und gab vor, Klee aus dem Rasen zu rupfen, während sie den Erwachsenen gebannt zuhörte.
    Während Johann von Kamphoff von seinen Kriegserlebnissen erzählte, verfinsterte sich das Gesicht meines Vaters zusehends. »Hätte sie ja nicht umbringen müssen«, seufzte der Gutsbesitzer. »Hätte sie doch schlicht enteignen können.« Noch immer trug er seinen rechten Ärmel aufgerollt und an der Schulter festgesteckt, aber das Hemd war von einem teuren, seidigen Stoff, und er trug eine gestreifte Krawatte.
    »Gewiss«, pflichtete ihm mein Vater abwesend bei. »Wäre für den Kriegsaufwand besser gewesen.«
    »Verfluchte Schweinerei«, schimpfte Johann von Kamphoff und blickte dann Inge an, die sich schnell abwandte und vorgab, nichts gehört zu haben.
    »Erich«, sagte

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