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Hemmersmoor

Hemmersmoor

Titel: Hemmersmoor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Kiesbye
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und dann hat sie geheult und ist nur noch wütender geworden, bis sie schließlich nach draußen gerannt ist.«
    Die Nachtluft war feucht, aber es hatte sich kaum abgekühlt. Auf ihrem Weg in die Gärten hatte sich Inge nicht ein einziges Mal umgedreht, und Friedrich war von Strauch zu Strauch gehuscht und ihr in einem sicheren Abstand gefolgt. Nahe der Allee, die zur Straße nach Hemmersmoor führte, da, wo man die Lichter vom Gutshof nicht mehr sehen konnte, hatte Inge innegehalten, und Friedrich hatte ihre Stimme hören können. »Sie hat meinen Vater angeschrien«, sagte er. »›Hermann‹, hat sie geschrien, immer und immer wieder. Und dann hat sie gesagt, dass er an all ihrem Unglück schuld sei. Dass er nur ein dummer Kellner gewesen war und uns verlassen hat, um in den Krieg zu ziehen. Dass er als Kanonenfutter gestorben ist und uns ohne Geld und alles zurückgelassen hat und dass sie ohne ihn flüchten musste.«
    Seine Mutter hatte laut geweint und schließlich hatte sie gerufen, »Hermann. Wo bist du? Was hast du mir angetan, Hermann? Was hattest du auf dem Schlachtfeld verloren? Du konntest noch nicht einmal richtig schießen. Wie konntest du nur so dumm sein und in der Fremde sterben? Was soll nun aus mir werden? Aus deinem Sohn? Komm zurück, Hermann, komm zu mir und hilf mir. Du hast mir das alles eingebrockt. Komm und hilf mir!«
    Friedrich hatte sich nicht aus seinem Versteck hervorgewagt. Er hatte Angst um sie gehabt, aber noch mehr hatte er sich vor ihrem Zorn gefürchtet. Doch er ließ sie nicht aus den Augen und mit einem Mal wurde er einer weißen Gestalt zwischen den Bäumen der Allee gewahr. Sie schien von Baum zu Baum zu huschen, ohne je den Boden zu berühren. »Hermann?«, fragte Inge, und als die weiße Gestalt näher kam, schrie sie auf. »Hermann« weinte sie. »Vergib mir. Ich wollte dich nicht wecken. Geh wieder, Herrmann, geh wieder schlafen. Ich werd schon alleine auskommen. Verzeih mir, Herrmann, ich werde dich schlafen lassen. Ich werd nicht mehr weinen. Herrmann.«
    Was danach passiert war, konnte Friedrich nicht sagen. »Ich bin davongerannt«, sagte er leise und ohne mich anzusehen, und er zog mit seiner Schuhspitze Linien in den Sand.
    »War es wirklich dein Vater?«, fragte ich.
    Er zuckte mit den Achseln. »Ich hab mir das nicht eingebildet.«
    »Vielleicht war es einer der Gutsherren«, schlug ich vor. »Oder Johanns Bruder, der wahre Erbe. Vielleicht ist der aus dem Keller entwischt.«
    »Das sind doch Weibergeschichten«, sagte Friedrich.
    »Gar nicht«, behauptete ich.
    »Auf jeden Fall sag meiner Mutter nichts davon«, ermahnte mich Friedrich. »Lass dir nichts anmerken.«
    Zusammen traten wir in die Stube, aber Frau Madelung schlief in ihrem Bett und wachte nicht auf, als wir uns langsam an ihr Bett schlichen und sicherstellten, dass ihre Augen geschlossen waren und dass sie atmete. Ihre Wangen sahen ganz rot aus, und ihre Falten hatten sich im Schlaf geglättet. Von Zeit zu Zeit schnarchte sie leise.
    Friedrich zog mich zurück und öffnete vorsichtig eine Schublade und nahm ein Foto heraus, das er mir draußen vor der Kammertür zeigte. »Es ist das Einzige, das wir von ihm haben«, sagte er und reichte es mir. Es zeigte einen Mann mit dünnem Haar in einem schwarzen Anzug, einem feinen Lächeln und großen, dunklen Augen. Die Ränder des Fotos waren knittrig und schmutzig.
    »War er ein Offizier?«, fragte ich.
    Friedrich schüttelte den Kopf. Er lief rot an und sagte, »Ich hab gelogen.«
    »Wie ist er denn gestorben?«
    »Das wissen wir nicht«, sagte er. »Und meine Mutter ist nie in Litauen gewesen. Wir wissen nicht einmal genau, wo er gestorben ist. Ich kann mich nicht an sein Gesicht erinnern. Als ich klein war, hat mir meine Mutter eine Geschichte erzählt, in der mein Vater eine große Stadt einnehmen musste und bei der Attacke fiel. Aber ich glaub, das hat sie nur erfunden. Heute morgen hat sie gesagt, dass das letzte Nacht ein Zeichen war.«
    »Für was?«, fragte ich.
    »Dass er über uns wacht und dass alles gut werden wird.«
    Ich gab ihm das Foto zurück und versprach, nichts von alledem zu erzählen. Am selben Abend noch, als meine Mutter zu mir ins Zimmer kam und auf mich eindrang, gab ich mein Geheimnis jedoch preis. Friedrich hatte den Geist seines Vaters gesehen, erzählte ich ihr mit glühenden Wangen. Meine Mutter hörte mir aufgeregt zu. Sie setzte sich neben mich aufs Bett, streichelte mein Haar und ließ mich ohne Unterbrechung reden. Als ich

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