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Hemmersmoor

Hemmersmoor

Titel: Hemmersmoor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Kiesbye
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Friedrich waren zwei Kilometer von der rechten Straße entfernt im Moor gestorben. Klaus Schürholz fand in Inge Madelungs Manteltasche den Brief der Groß Ostensener Behörden. Es war genau, wie der Gutsbesitzer es meinem Vater erzählt hatte. Die gute Nachricht vom Erhalt ihrer Pension, so sagte der Gendarm, hatte die Witwe in den Tod getrieben.
    Ein Unglück, klagten die Frauen in Meiers Bäckerei, als meine Mutter und ich nach der Schule einkaufen gingen. Sie hätte doch die Pfennige nicht mehr zusammenkratzen müssen, sagte Frau Meier, wie töricht, im Schneetreiben ins Moor zu gehen. Eine Schande, sagte Frau Schürholz, der alte von Kamphoff hätte sie doch nach Groß Ostensen fahren können, der Geizhals. Meine Mutter wusste zu alldem nichts zu sagen und vergaß völlig, was sie hatte kaufen wollen. Sie stotterte, schaute Frau Meier fassungslos an und schwankte leicht, bis diese leise sagte, »Reiß dich zusammen.«
    Es war ein Unfall. Ein törichter Fehler. So sagten alle im Dorf. Und doch, war es nicht seltsam, dass meine Mutter, die sich nichts mehr gewünscht hatte, als Inge Madelung vom Gut getrieben zu sehen, die Nachricht ihres Todes so schwer nahm? War es nicht seltsam, dass sie leichenblass nach Hause ging und den ganzen Nachmittag mit ihrem Gesicht in den Händen vergraben in der Stube saß und bitterlich weinte?

CHRISTIAN
    Unser Vater war ein schmächtiger Mann, der als Vorarbeiter in der kleinen Molkerei in Hemmersmoor arbeitete. Als junger Mann hatte er davon geträumt, das Dorf zu verlassen und nach Australien oder Kanada auszuwandern. Er hatte bebilderte Bücher über diese Länder und studierte die Fotografien mit der ihm eigenen Ernsthaftigkeit.
    In seiner Jugend hatte er ein Motorrad besessen, und er und meine Mutter waren zusammen zu Tänzen in die umliegenden Dörfer gefahren. Ein Foto von ihnen stand auf unserer Anrichte und daneben eines, auf dem mein Vater in einer Lederjacke vor seinem Milchlieferwagen posierte. Bäcker Meier hatte seine rechte Hand auf die Schulter meines Vaters gelegt, und hinter ihnen entluden Männer, die wie Soldaten aussahen, die Milch und die Brotkästen. Das Foto war im Krieg aufgenommen worden, aber mein Vater und Bäcker Meier waren im Dorf geblieben. Sie lachten in die Kamera.
    Mein Vater war im Dorf und bei meinen Freunden beliebt. Er war freundlich und gesellig, und das Jahr, in dem ich elf Jahre alt wurde und der Bauch meiner Schwester Nicole anschwoll, war für ihn ein Gutes gewesen.
    Im November sah Nicoles Bauch wie einen Kürbis aus, und sie durfte das Haus nicht mehr verlassen. »Wer war’s?«, fragte ich, dieselbe Frage, die ihr meine Mutter schon unzählige Male gestellt hatte. Aber ich hieb nicht auf sie ein, und ich schlug ihren Kopf nicht gegen den Bettpfosten. Meine Schwester Ingrid war im Herbst vor vier Jahren gestorben. »Und jetzt verlieren wir auch die andere noch«, klagte meine Mutter.
    Ich streichelte Nicoles Bauch, den ich mir kaum anschauen konnte und dennoch berühren musste. Ich konnte meine Finger nicht von ihm lassen. Was auch immer darin hauste, pochte gegen meine Hand; das Gesicht meiner Schwester verzerrte sich mit Grauen. Ein anderes Wesen beherrschte sie wie ein böser Geist. Sie war fünfzehn Jahre alt.
    »Wer hat das gemacht?«, wollte ich wissen. Sie musste es getan haben – ich wusste, wie Kinder gemacht wurden. Ich hatte Alex’ Schwester Anna beobachtet, wie sie es mit einem der Lehrlinge aus Brümmers Fabrik getrieben hatte. Es war ein schreckliches Schauspiel, aber Alex und ich hatten genau hingesehen, wie der schlaksige Junge bebte und stöhnte und Annas Fleisch wie Pudding wackelte.
    Meine Schwester lächelte, wenn ich sie fragte, und schwieg still. Meine Mutter erzählte im Dorf herum, dass Nicole krank sei, und sie behielt mich ständig im Auge. »Wenn du deinen Mund nicht hältst«, sagte sie, »wirst du es für immer bereuen.« Seit Ingrids Tod hatte sie nichts als harte Worte für mich. Meine Zehen bluteten, wenn sie meine Nägel schnitt, und eines Herbstabends hatte sie kochendes Wasser in meinen Schoß gegossen und später gesagt, der Topf wäre ihr aus der Hand gerutscht. Wenn sie mich im Zimmer meiner Schwester erwischte, hieb sie auf mich ein und schimpfte Nicole eine Dirne.
    Mein Vater war nachsichtiger und gab sich, so oft er konnte, der Pflege meiner Schwester hin. Sie waren einander schon immer nah gewesen; bis Nicole acht Jahre alt gewesen war, hatte sie im Bett meiner Eltern ihren Mittagsschlaf

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