Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hemmersmoor

Hemmersmoor

Titel: Hemmersmoor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Kiesbye
Vom Netzwerk:
gehalten, und mein Vater nannte sie liebevoll Mieze. Neuerdings brachte er ihr das Abendessen, wenn sie sich zu schwach fühlte, ihr Zimmer zu verlassen.
    Ich hätte mir alles zusammenreimen können, es war so offensichtlich, aber ich wusste nichts damit anzufangen. So war es Alex, der mich eines Tages nach der Schule fragte: »Was werdet ihr mit dem Bastard anstellen?«
    Ich starrte ihn an; ich hatte ihm nichts von Nicoles Schwangerschaft erzählt. »Nicole ist krank«, antwortete ich pflichtbewusst.
    Alex’ buschige Augenbrauen zogen sich noch dichter zusammen. Er war eine Klasse über mir und wusste alles ein Jahr, bevor ich es lernte. »Meine Mutter sagt, dass sie diese Art von Krankheit kennt. Sie sagt auch, dass es seltsam ist, dass deine Eltern es noch niemandem angehängt haben. Sie sagt, dass sie die Ehre ihrer eigenen Tochter im ganzen Dorf verteidigen würde.«
    »Nicole will mir nicht sagen, wer es war.«
    »Meine Mutter sagt, dass deine Eltern niemanden haben, dem sie es in die Schuhe schieben könnten. Also ist es entweder Gottes Kind, oder es ist des Teufels. Das Erste ist seit 2000 Jahren nicht mehr passiert, also ist es des Teufels.«
    »Des Teufels?«, fragte ich.
    »Es ist von deinem Vater«, sagte Alex gewichtig. »Ich glaube, das ist, was sie meint.«
    Die Unterstellung war so ungeheuerlich, dass ich sofort wusste, dass es die Wahrheit war. Später, während des Abendbrots, ergaben all die kleinen Blicke, stummen Momente und geflüsterten Worte plötzlich Sinn. Es war, als ob ich eine neue Sprache gelernt hätte und zum ersten Mal dem Gespräch an unserem Tisch folgen konnte.
    Ich verstand plötzlich, dass meine Mutter Nicole nicht schlug, um die Wahrheit herauszubekommen, sondern einzig und allein, um meine Schwester zu bestrafen. Das Lächeln meines Vaters war kein Zeichen von Vergebung, sondern von froher Erwartung. Er freute sich auf sein Kind.
    Nachdem meine Eltern zu Bett gegangen waren, schlich ich mich ins Zimmer meiner Schwester. Ich hob ihr Nachthemd und legte mein Ohr auf ihren Bauch. Mein Vater wohnte dort drinnen, klein und ungeboren.
    »Was wird aus ihm werden?«, fragte ich. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie er aus diesem Bauch durch diese kleine, mit spärlichen Haaren bewachsene Öffnung kommen sollte. Ein dunkler Streifen zog sich über Nicoles Bauch und fast bis zu ihren nun sonderbar dunklen Brustwarzen hinauf.
    Nicole schüttelte den Kopf. Sie sah auf eine stille Weise schön aus. Beim jährlichen Kochwettbewerb wäre sie auf dem Marktplatz niemandem ins Auge gesprungen, aber bei näherem Hinsehen konnte sie es mit jedem Mädchen in Hemmersmoor aufnehmen. Wir mussten rasch handeln, davon war ich überzeugt. Das Kind würde im März zur Welt kommen, und wir konnten nicht wissen, was Mutter und Vater geplant hatten. Es gab nur eine einzige Möglichkeit, um sicherzustellen, dass Nicole und dem Kind nichts zustoßen würde.
    Ich erzählte Nicole nichts von meinen Plänen, ich wollte sie nicht beschweren. Nein, ich musste alles allein machen. Aber was konnte ich tun, um keinen Verdacht zu erregen? Ich versuchte, mich an Zauber und Bannsprüche zu erinnern, die ich im Dorf gehört hatte. Ich fragte meine Freunde, was sie über Geister, Dämonen und Hexen wussten. Die Zeit ging dahin, und noch immer war mir keine Lösung eingefallen. Bald käme Weihnachten.
    Am ersten Adventssonntag lief ich zu Fricks Krug hinüber, um mit Alex durch die Gegend zu streifen. Alex’ Mutter war vor einem Jahr gestorben, und er half nun an Nachmittagen und an Wochenenden in der Kneipe aus. Sein Bruder hatte das Dorf schon lange verlassen und auf einem Schiff angeheuert, und niemand wusste, ob und wann er zurückkommen würde. Hilde, seine junge Frau, ging der Familie nun zur Hand und war in die Wohnung über der Gaststätte eingezogen. »Ich musste wieder in mein altes Zimmer ziehen«, beschwerte sich Alex nur.
    Während ich in der Kneipe auf meinen Freund wartete, lauschte ich einem Gespräch an der Theke. Eine Kerze brannte im Adventskranz, der von einem der dunklen Deckenbalken hing, und Jens Jensen, der wie immer gleich nach der Kirche in die Gaststube gekommen war, saß bei einem Glas an der Theke.
    »… musst du in dieser Nacht auf der Hut sein. Es ist eine ganz verflixte Sache«, sagte der alte Mann, während er sein Bier trank und sich die grauen Bartstoppel kratzte. »Wenn du in dieser Nacht Wein trinkst, wirst du noch vor dem Dreikönigstag tot sein.«
    »Welche Nacht mag das sein?«,

Weitere Kostenlose Bücher