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Hemmersmoor

Hemmersmoor

Titel: Hemmersmoor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Kiesbye
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ihr alles berichtet hatte, zitterten ihre Finger, und als ob sie ihrer Gefühle Herr werden wollte, biss sie sich die Hand blutig. »Ein Geschenk«, sagte sie heiser. »Was für ein Geschenk.«
    »Sie denkt, dass es ein gutes Zeichen war.«
    Meine Mutter starrte mich an. »Bestimmt. Ganz bestimmt.«
    In jener Nacht drehte der Wind und rüttelte an den Fenstern, und als ich am Morgen nach draußen sah, war die Erde unter einer frischen Decke Schnee begraben. Unser Laster wollte nicht anspringen, und als mein Vater den Motor endlich zum Laufen brachte, fiel der Schnee so dicht, dass wir auf halbem Wege umkehren mussten. Als ob der Winter etwas nachholen wollte, schneite es die nächsten vier Tage fast ununterbrochen. Die Blüten der Hecken erstarrten und brachen, die Äste der Bäume barsten, und schließlich froren die Kanäle zum ersten Mal in jenem Winter zu und brachten das Leben in Hemmersmoor zum Erliegen.
    Jens Jensen, der alte Torfstecher, lag an jenem ersten Morgen betrunken in einem Graben, nur sein Gesicht und seine Brust ragten aus dem Schnee. Die Kinder, die ihn halbnackt und halb erfroren fanden, bewarfen den nur langsam erwachenden Mann mit Schneebällen. »Wo sind meine Hosen?«, fragte er mit seiner rostigen Stimme. »Was habt ihr mit ihnen gemacht?«
    Meine Mutter atmete auf, für sie war der Neuschnee ein Segen. Mein Vater musste zu Hause bleiben, und seine Arbeit mit Inge Madelung war fürs Erste ausgesetzt. Und jeden Morgen wartete sie auf den Briefträger, stand am Küchenfenster und knetete ihre Hände. Als er sich am dritten Tag endlich durch die Schneewehen kämpfte und ihr erzählte, dass er auf dem Gut gewesen war und Inge Madelung einen dicken Umschlag der Behörden überbracht hatte, umarmte sie ihn. »Muss die Pension sein«, sagte er mit einem Zwinkern. »Die haben ihren Mann wohl endlich für tot erklärt.« Nachdem er uns verlassen hatte, stand meine Mutter lange Zeit weinend am Fenster.
    In jenem Winter verstand ich nur wenig von dem, was um mich herum geschah. Ich begriff den Kummer und die Furcht meiner Mutter, aber der Besuch der Nachbarsfrauen und das seltsame Betragen des Briefträgers konnte ich mir nicht zusammenreimen. Etwas Ungeheuerliches ging in unserem Hause vor sich, aber ich konnte die einzelnen Teile nicht zusammenfügen. Stattdessen wünschte ich mir, dass ich mit Anke nach Groß Ostensen hätte fahren können. Ich wünschte mir ein größeres Haus, ganz so wie das der Hoffmanns. Ich wünschte, ich hätte Friedrichs Vaters Geist mit meinen eigenen Augen sehen können.
    Als die Straßen wieder befahrbar waren, zwei Tage vor dem Dreikönigsfest, fuhr ich ein letztes Mal mit meinem Vater zu den von Kamphoffs hinaus. Zu meiner Überraschung kam uns Inge nicht entgegen, und als ich an die Tür der Madelungs pochte, blieb drinnen alles still. Inge hatte nicht gewartet, bis der Schnee geschmolzen war. Der alte Gutsbesitzer kam, um meinem Vater die Nachricht zu überbringen. »Hat uns verlassen«, sagte er. Inge hatte einen Koffer gepackt, denselben, mit dem sie aus dem Osten nach Hemmersmoor gekommen war, hatte Friedrich in seinen dicken Mantel gewickelt und sich auf den Weg nach Hamburg gemacht. »Hatte ihr eine bessere Stube versprochen, aber sie wollte nichts davon wissen. Weiß der Teufel, was in sie gefahren ist.«
    Als ich diese Nachricht meiner Mutter überbrachte, drückte sie mich an sich, herzte mich, und sie kochte das Lieblingsessen meines Vaters, Schweinebraten mit Kartoffeln und Erbsen und Möhren. Ihre Schritte in der Küche waren so leicht wie die einer Tänzerin. Und wenn mein Vater die nächsten Tage auch sehr schweigsam war, so kehrte doch langsam wieder Frieden in unserem Haus ein.
    Erst im Februar schwang das Wetter wieder um, und Anfang März waren die Kanäle eisfrei. Und mochte meine Mutter anfangs gefürchtet haben, dass Inge zurück nach Hemmersmoor kommen könnte, wurde sie mit jedem Tag deutlich zuversichtlicher. Und auch mein Vater, der anfangs in sich gekehrt an unserem Abendbrottisch saß, lächelte wieder, wenn ich ihm meine Arbeiten und Diktate zeigte. Inge Madelung hatte ein besseres Zuhause gefunden. Sie konnte nun ihr Leben neu beginnen. Die Frauen im Dorf vermissten sie nicht.
    Es war ein milder Nachmittag im April, als wir erfuhren, dass Inge nie in Hamburg angekommen war. Torfstecher fanden sie am Morgen auf ihrem Weg übers Moor. Die Witwe musste wohl im Schneetreiben vom Weg abgekommen sein, sich verlaufen haben, sagten sie. Sie und

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