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Hemmersmoor

Hemmersmoor

Titel: Hemmersmoor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Kiesbye
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als wir an Inges Türschwelle standen, wurde es mit einem Mal eigentümlich still. Ich erinnere mich an die Befangenheit meines Vaters, der mit der großen Kiste im Arm dastand und schwitzte, aber nicht weil es so ungewöhnlich warm war. Und ich sehe noch immer Inges Hand, die sich nicht entschließen konnte, die Türklinke zu ergreifen. Friedrich hatte uns kommen gehört und öffnete schließlich von innen und ließ uns mit einem grimmigen Gesicht ein. Wir müssen ihre ersten Besucher überhaupt gewesen sein.
    »Stellen Sie sie einfach hier ab«, sagte Inge zu meinem Vater, und deutete in die Mitte des kleinen Zimmers. Ich kümmere mich später darum. Haben Sie vielen Dank«, sagte sie schnell.
    Doch mein Vater machte keine Anstalten, die Kammer zu verlassen. Er setzte die Kiste ab und sah sich dann ausführlich um. »Bisschen eng«, sagte er. »Die konnten nichts Kleineres für euch zwei finden, was? Aber sauber, alles blank.« Er schaute zufrieden drein. »Ist ne Menge Spielzeug«, sagte er.
    »Was sagst du?«, flüsterte Inge ihrem Friedrich zu.
    »Danke«, sagte Friedrich.
    »Vielen Dank«, sagte auch Inge und rührte sich nicht vom Fleck.
    »Wir sollten wieder an die Arbeit«, sagte mein Vater, aber er stand noch etwas länger im Zimmer und sah sich wieder um. »Kein Bild von deinem Mann?«, fragte er plötzlich.
    Inge errötete. »Ich hab alles verloren«, sagte sie schnell.
    »Ganz recht«, sagte mein Vater. »Na, wir sollten nun wirklich gehen. Vielleicht kann Linde dem Friedrich helfen, die Eisenbahn aufzubauen?«
    »Ja, schon, aber…«, sagte Inge langsam und drehte sich nach ihrem Sohn um.
    »Aber soll ich dir nicht im Garten helfen?«, fragte ich meinen Vater flehentlich.
    »Wir werden schon ein paar Stunden ohne dich auskommen«, sagte er.
    »Aber wenn sie doch helfen will«, kam mir Inge zu Hilfe.
    »Das ist schon recht«, sagte mein Vater brüsk, und ein paar Minuten später war ich mit Friedrich allein in der Kammer. Er stand vor der Holzkiste, wohl neugierig, was sie enthielt, aber auch zu stolz, um es sich anmerken zu lassen.
    »Anke ist nicht hier«, sagte ich schließlich in die Stille. Ich erinnerte mich an den Plan meiner Mutter. Ich musste mich mit Friedrich anfreunden.
    »Die ist blöde«, sagte Friedrich.
    »Gar nicht«, erwiderte ich schnell. »Vielleicht ein bisschen.«
    »Du bist netter«, sagte er sachlich. Und dann packten wir die Spielsachen gemeinsam aus, steckten die Gleise zusammen und putzten die Waggons. »Und die willst du wirklich nicht mehr haben?«, fragte Friedrich.
    Ich zuckte mit den Schultern. »Meine Mutter sagt, ich bin zu alt für so etwas.«
    »Ich bin genauso alt wie du.«
    »Aber du bist ein Junge«, sagte ich.
    Er sah mich verblüfft an, starrte dann auf die Dampflokomotive in seiner Hand und sagte: »Ich glaube, dein Vater mag meine Mutter.«
    Ich hielt erschreckt inne. Bis jetzt war alles ein kompliziertes Spiel meiner Eltern gewesen, doch die Worte aus Friedrichs Mund zu hören, machte das Ganze plötzlich wahr. Er hatte recht, es konnte keine andere Erklärung geben. »Sei nicht blöde«, sagte ich.
    »Sieh selbst.« Er stand auf und lief zu einer Kommode hinüber. Er zog eine Schublade auf und zeigte mir deren Inhalt. »Er bringt ihr immer etwas mit, auch wenn sie es nicht haben will.« In der Schublade lag eine kleine Vase, die ich für meinen Vater im Unterricht aus Ton gefertigt hatte, daneben eine Kette mit einem blauen Anhänger. Ein gesticktes Taschentuch, ein Stück Rosenseife, ein Nadelkissen. »Fast jeden Tag bringt er ihr etwas.« Sein Ton schwankte zwischen Vorwurf und Vertraulichkeit. »Sie denkt, sie hält es vor mir geheim, aber sie benimmt sich in letzter Zeit ganz anders.«
    »Wie, anders?«
    »Gestern hat sie mich geschlagen, weil ich schmutzig nach Hause kam. Und dann hat sie sofort angefangen zu weinen. Ich hab sie zu trösten versucht, aber sie hat den ganzen Abend geweint. Und heute Morgen hat sie mich geohrfeigt, weil ich nicht schnell genug fertig war.«
    »Du lügst«, sagte ich. »Das ist gelogen. Deine Mutter ist eine böse Frau.«
    »Das nimmst du zurück«, sagte er.
    »Da kannst du lange warten«, erwiderte ich. »Meine Mutter hat recht. Deine Mutter ist schlecht.« Ich ohrfeigte ihn.
    Doch dieses Mal rannte Friedrich nicht weg. Er schlug mich ins Gesicht, und Tränen sprangen mir in die Augen; ich zog ihn an den Haaren. Er schrie auf, fasste nach meinem Kleid. Dann biss er mir in den Arm, und ich trat ihm auf den Fuß und schubste

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