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Hemmersmoor

Hemmersmoor

Titel: Hemmersmoor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Kiesbye
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solche Mädchen kannst du nicht heiraten.«
    Ich nickte schweigend.
    »Am besten fängst du mit einer erfahrenen Frau an«, sagte er, während er die kleinen Äste ganz unten am Stamm unseres Baumes abhackte. »Eine verheiratete Frau.« Und dann erzählte er mir, wie er als Fünfzehnjähriger von einer älteren Kusine in Groß Ostensen verführt worden war, und dass er ihr noch immer dankbar wäre. »Sie hat einen Mann aus mir gemacht«, sagte er. Ich biss mir auf die Lippen.
    Auf dem Nachhauseweg stieß er mich mit dem Ellbogen an. »Ich bin froh, dass wir einmal miteinander reden konnten. Ich möchte dir ein guter Freund sein. Wenn du mit den Mädchen Schwierigkeiten hast – ich kenn mich da aus. Ich kann dir die eine oder andere Geschichte erzählen. Frag mich einfach.«
    *
    Am Heiligen Abend waren meine Nerven so gespannt, dass mir der Kopf schmerzte und ich nicht stillsitzen konnte. Ich ließ die Hausarbeit über mich ergehen und kaute mich durchs Mittagessen, das bei uns immer aus Würstchen und Kartoffelsalat bestand. Am Nachmittag zog ich mich warm an, und mit der Entschuldigung, dass ich für die Bescherung noch etwas Wichtiges zu besorgen hätte, lief ich nach draußen.
    In Hemmersmoor hatten wir nur selten Schnee zur Weihnachtszeit. Schnee und Eis kamen meist eine Woche später und blieben bis Februar. Heute war es einfach nur kalt, und es regnete leicht. Doch das Wetter konnte mich nicht beruhigen, ich war in meinem Körper gefangen. Ich hätte mich gern aus meinem Fleisch geschält, wäre ihm nur zu gern entkommen, aber ich saß fest. In meiner Haut, in meiner Familie, in Hemmersmoor. Nichts passte.
    Ich lief zur Droste, wo Sylvia, die Tochter des Bäckers, am Ufer stand und kleine Steine und Zweige ins Wasser warf. Sie war ein paar Jahre älter als ich, hatte langes, bleiches Haar und ein rundes Gesicht.
    »Hallo«, sagte ich.
    »Hallo«, sagte sie ohne jedes Interesse.
    »Bist du nicht zu Hause?«, fragte ich blöde.
    Sie lachte über mich, aber es hörte sich nett an. »Nein, bin ich nicht. Ich warte.«
    »Auf was?«, fragte ich.
    »Auf jemanden«, korrigierte sie mich und lief rot an.
    »Auf wen?«
    »Sei nicht so neugierig.«
    Ich wartete eine Minute lang auf eine Antwort, aber Sylvia blieb stumm. Dann kam mir eine Idee. »Du könntest mich segnen«, sagte ich.
    »Wie ein Pastor?«
    »Ja.«
    »Warum das?«
    »Weiß ich nicht«, log ich sie an.
    Sie trat näher auf mich zu und legte ihre Hand auf mein Haar. »Ich segne dich«, sagte sie, und bevor ich sie zurückhalten konnte, küsste sie mich auf die Stirn. »Frohe Weihnachten, Christian.«
    Ich ließ sie wortlos am Wasser stehen, zu sehr schämte ich mich mit einem Mal. Ich rannte so schnell ich konnte, bis mein Hemd an Brust und Rücken klebte, und der Schweiß sich eisig anzufühlen begann. Sollte ich krank werden, müsste ich meinen Plan nicht in die Tat umsetzen. Krankheit war die einzige Möglichkeit, meinem Körper und mir selbst zu entfliehen. Ich rannte und rannte.
    Das Schimpfen meiner Mutter nahm ich kaum wahr, als ich endlich zu Hause war. Ich ließ das heiße Bad über mich ergehen, die Schläge mit der flachen Hand, die meine Ohren trafen, und zog mich danach schweigend zum Abendessen um. Ich beklagte mich nicht über den steifen Kragen meines guten Hemdes oder darüber, dass meine Hosen zu eng und zu kurz geworden waren. Ich fühlte mich der kommenden Nacht nicht gewachsen.
    Zwei Stunden später, nachdem die Gans, die meine Mutter am Nachmittag zubereitet hatte, vom Tisch geräumt war, und nachdem meine Schwester und ich das Geschirr gewaschen und abgetrocknet hatten, packten wir unsere Geschenke aus. Meine Schwester bekam seltsam große Hemden, weite Röcke und Unterhosen und große Büstenhalter. Sie war beim Geschenkauspacken ganz still und schien unter der Last der großen Kleider zu schrumpfen. Und sie schwieg und sah neidisch zu, wie ich Bücher und eine Spielzeugeisenbahn auspackte.
    Gegen zehn Uhr bliesen wir die restlichen, schwach flackernden Lichter am Baum aus und gingen zu Bett. Aber keiner von uns wird geschlafen haben. Meine Mutter musste doch den leeren Platz neben sich bemerken, auch wenn sie sich an die Abwesenheit meines Vaters gewöhnt hatte.
    Ich wartete vor dem Zimmer meiner Schwester, bis die Stille, die ich durch Wand und Tür kommen spürte und die wie der Geruch von Gans, Gemüse und Zimtsternen in der Luft hing, bis diese Stille sich dünn und kalt anfühlte. Kurz darauf kam mein Vater aus Nicoles Zimmer

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