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Hemmersmoor

Hemmersmoor

Titel: Hemmersmoor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Kiesbye
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fragte ich. Alex hatte die Gaststube verlassen, um sich Handschuhe und eine Mütze zu holen; ich konnte mir diese Möglichkeit nicht entgehen lassen.
    »Wer will das wissen?«, Jens Jensen wandte sich von der Bäuerin ab, mit der er gesprochen hatte und deren Gesicht mit geplatzten Adern überzogen war. Ihr Mann schlief friedlich an einem Tisch beim Kamin.
    »Ich bin’s, Christian.«
    »Der kleine Bobinski,« sagte er und schaute mich prüfend an. »Die Heilige Nacht natürlich.«
    »Was passiert in der Heiligen Nacht?«
    Jens Jensen nahm einen großen Schluck Bier und wischte sich dann den Schaum aus seinen schmutzig-weißen Barthaaren. »Wenn du in der Heiligen Nacht aufwachen solltest«, sagte er eindringlich, »wirst du einen großen Durst verspüren.«
    »Du hast immer einen großen Durst«, sagte die Bäuerin und lachte lauthals über ihren eigenen Witz. Ihre Brüste bebten gewaltig.
    »Hast schon recht«, sagte Jensen und tätschelte ihr liebevoll das Knie. »Aber scher dich zum Teufel, mein Schatz.« Dann wandte er sich mir erneut zu. »In der Heiligen Nacht kannst du nichts als Wasser trinken.«
    Alex kam mit Mütze und Handschuhen die Treppe hinunter, nahm mich beim Arm und zog mich fort, aber ich machte mich los und lief zum alten Torfstecher zurück.
    »Und wenn du Wein trinkst?«, fragte ich.
    »Wenn du nachts Wein trinkst«, sagte Jens leise, »wirst du nicht aufhören können zu trinken. Du wirst dich zu Tode saufen, bevor die letzten Sternsinger nach Hause kommen.« Er lachte mich an und entblößte mehr Lücken als Zähne. »Als ich in deinem Alter war …«
    »Du wurdest alt geboren«, dröhnte die Bäuerin und schlug mit der flachen Hand auf die Theke.
    »Als ich in deinem Alter war«, fing Jensen noch einmal an, »kannten wir uns in diesen Angelegenheiten aus.« Er streckte die Hand aus, vielleicht um mir den Kopf zu tätscheln, aber ich wich ihm aus.
    Er lachte. »Wir kannten uns aus, und diese Dinge sind noch immer wahr, aber niemand erinnert sich mehr an sie.« Jens sah mich mit Augen an, die mich nicht länger zu erkennen schienen. »Wir haben die Fallen und Schlingen vergessen.«
    »Komm schon«, sagte Alex ungeduldig, und dieses Mal ließ ich mich von ihm fortziehen.
    *
    Die Wochen vor Weihnachten waren so ruhig und lichterfüllt wie immer, doch in jenem Jahr bemerkte ich den Geruch von Pfefferkuchen, Zimt, Vanille und Apfelsinen kaum. Die Leute in Hemmersmoor schienen in einer Welt voll froher Vorbereitungen zu leben, voll Wärme und gespannter Erwartung, und ich fand in dieser Welt keinen Platz.
    Ich ging in die Schule, eine Klasse unter meinen Freunden, und am Nachmittag half ich meinem Vater bei seinen Besorgungen oder meiner Mutter beim Backen. Ich begriff nichts von dem, was ich tat und nahm es kaum wahr. Gerade weil die Adventszeit ganz genau so wie immer war, ergab sie für mich keinen Sinn.
    Die Wutausbrüche meiner Mutter verebbten. Ich kümmerte mich jede Nacht um Nicole und ihren Bauch, und wenn sie einschlief, bevor ich ihr Zimmer verlassen hatte, sprach ich zu ihrem Kind. Ich ließ meine Hand über ihrem Bauchnabel ruhen und flüsterte diesem Kind, das sich im Innern Nicoles einrichtete, beruhigend zu. »Du bist hier sicher«, sagte ich. »Mach dir keine Sorgen. Wenn du herauskommst, werde ich alles erledigt haben.«
    Ich gab mir besondere Mühe, meinen Eltern zu gehorchen. Als wir eine Tanne im Wald bei der Schwarzen Mühle fällten, ließ ich meinen Vater die Geschichte des Müllers erzählen, so als ob ich sie noch nie gehört hätte. Die Mühle stand schon seit Jahrhunderten leer, aber Wind und Wetter hatten ihr nichts anhaben können; der Geist des Müllers hielt alles in Stand und sann noch immer auf Rache. Mitten in seiner Erzählung von schwedischen Soldaten und wie sie sich an den Töchtern des Müllers vergingen, brach mein Vater jedoch ab und sah mich von der Seite an. Er trug eine mit Fell gefütterte Mütze, und sein Gesicht glühte vor Anstrengung. »Interessierst du dich schon für Mädchen?«
    Ich starrte ihn an und umklammerte den Stiel meiner Axt. Mein Vater war stärker und größer als ich, aber in jenem Moment konzentrierten sich all meine Gedanken darauf, wie ich seinen Schädel entzweischlagen könnte. Es musste möglich sein. Ich schüttelte den Kopf.
    »Es ist niemals zu früh«, lachte er in sich hinein. »Es wird bald an der Zeit sein. Mach nur sicher, dass du ein Mädchen heiratest, das nicht verbraucht ist. Du kannst mit vielen Spaß haben, aber

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