Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hemmersmoor

Hemmersmoor

Titel: Hemmersmoor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Kiesbye
Vom Netzwerk:
und ging ins Bad.
    Als er wieder herauskam, trat ich gegen das Treppengeländer.
    »Wer ist das?«, fragte er.
    Ich schlich die Treppe hinunter und wartete darauf, dass er mir folgen würde. Und wirklich, als ich mich neben den Tannenbaum gesetzt hatte und meine Eisenbahn in den Händen hielt, kam auch er in die Stube.
    »Bist du das, Christian?«, fragte er. Er hörte sich erleichtert an. Seine Hand hielt einen Pantoffel wie eine Waffe umklammert, der linke Fuß war nackt.
    »Ja«, sagte ich.
    »Konntest nicht schlafen, was?«, fragte er leise. »Waren das auch die richtigen Geschenke?«
    »Ja«, sagte ich. »Ich musste sie mir noch einmal ansehen.« Nach einer kleinen Pause fügte ich hinzu: »Ich bin durstig.«
    »Ich auch«, sagte mein Vater. Er zog sich den linken Hausschuh an und schien im schwachen Schimmer, der durch die Fenster drang, zu lächeln. »Wie wär’s, wenn wir uns einen kleinen Nachtschmaus genehmigen?«
    Er holte Würstchen und Milch aus dem Kühlschrank, und ich nahm das Brot aus dem Kasten. »Haben wir noch etwas Glühwein?«, fragte ich.
    Vater lachte. »Du hattest doch schon ein Glas.«
    »Bitte.«
    Wir wärmten den Wein auf. Und während ich das Glas hob und es nur gegen meine Lippen presste, trank mein Vater ein ganzes Glas, um die Würste hinunterzuspülen. Wir fraßen wie zwei verhungernde Bettler, als ob wir nie etwas von der Gans, den Kartoffeln, den Bohnen und dem Pudding abbekommen hätten. Wir fraßen, und er trank dazu.
    Um ein Uhr lag ich wach in meinem Bett. Ich hatte keine Gewissensbisse, aber mein Plan schien zu ungeheuer, um ihn zu Ende zu denken. Meine Gedanken hielten mich wach, bis graues Licht wie eine Schar von Mäusen über den Boden huschte.
    Mein Vater kam nicht zum Frühstück herunter. Er weigerte sich zu essen und blieb den ganzen Tag im Bett. Meine Mutter musste in den Keller gehen und ihm drei Flaschen Wein holen. Sie war besorgt und verwirrt, aber nachdem sie sich zuerst geweigert hatte und darauf von meinem Vater böse beschimpft worden war, gab sie nach.
    Mein Vater trank an beiden Weihnachtstagen. Er aß nur wenig, und das wenige, das er hinunterwürgte, spuckte er bald danach in die Toilettenschüssel. Am 27. Dezember ging er zur Arbeit, wurde aber frühzeitig wieder nach Hause geschickt, weil er in Ohnmacht gefallen war. Der Arzt kam ins Haus und verschrieb Medikamente, und mein Vater nahm die Säfte und Tabletten und trank. Er trank und trank, und nachdem er alle Flaschen aus unserem Keller geleert hatte, hieß er meine Mutter mehr Wein kaufen. Er trank, bis sich sein Schweiß rosarot färbte und das Schlafzimmer wie Fricks Krug stank. Aber noch immer hörte er nicht auf. Er schien nicht betrunken zu werden, er erhob die Stimme nicht, er trank, um in einen fiebrigen Schlaf zu fallen, aufzuwachen und noch mehr zu trinken.
    Am Dreikönigsfest starb er. Ein Schatten fiel von unserem Haus. Seine Rache, die mich im Falle seiner Genesung vernichtet hätte, starb mit ihm. Er wurde auf unserem Friedhof beerdigt, und das halbe Dorf kam, um Abschied zu nehmen.
    Trotz des dunklen, unbequemen Anzugs, den ich trug, war ich erleichtert. Ich nahm mit Genugtuung an der Feier teil, und in der folgenden Nacht schlief ich tief und fest.
    Ich besuchte Nicole noch immer jeden Abend. Sie hatte sich auf der Beerdigung nicht zeigen lassen dürfen, und sie sah traurig und verängstigt aus. Ich hätte meinen Mund halten sollen, aber mein Erfolg war mir zu Kopf gestiegen. Unsere Befreiung war so einfach gewesen.
    Gegen Ende Februar, einen Tag vor meinem zwölften Geburtstag, weinte Nicole aus Angst vor ihrem riesigen Bauch. Ich erzählte ihr, was ich für sie gewagt hatte – und sagte ihr, dass sie sich nicht mehr zu fürchten bräuchte. Mein Vater konnte uns nichts mehr anhaben, sagte ich, und ich würde so bald wie möglich Geld verdienen und für sie und das Kind sorgen.
    »Ich habe dich gerettet.« Ich beschrieb ihr, wie ich es angestellt hatte.
    Sie hörte mir zu, und in meiner Eitelkeit sah ich nicht, wie sich der Ausdruck ihres Gesichts wandelte. Sie zeigte keine Dankbarkeit, sondern hieb plötzlich auf mich ein, nahm die Teekanne vom Nachttisch und zerschlug sie auf meinem Kopf. Sie trommelte mit Fäusten auf mich ein und hätte nie aufgehört, hätte sich das Kind in ihrem Innern nicht bewegt.
    Von dieser Nacht an wurde ich nur widerwillig in unserem Haus geduldet, und schon bald war mein Rücken von Narben übersät, meine Arme waren voller Brandwunden, blau und grün

Weitere Kostenlose Bücher