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Hemmersmoor

Hemmersmoor

Titel: Hemmersmoor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Kiesbye
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Vater aufs Gut begleitete, zwanzig und siebzehn. Die verschiedenen Attribute ihrer Eltern hatten sich aufs Harmonischste in ihnen gemischt, und die Leute im Dorf bewunderten und verachteten sie dafür. Sie waren von privaten Lehrern aus Hamburg und Bremen unterrichtet worden und hatten sich nur selten im Dorf sehen lassen. Doch seit dem Frühling kam Rutger an Sonnabenden zum Tanz nach Hemmersmoor, und etliche Mädchen behaupteten, dass er sie geküsst habe.
    Ich liebte meinen Vater, genoss es ganz wie als Kind, ihm durch die Gärten zu folgen und seinen Anweisungen, wie und wann man die Rosenbüsche am besten beschnitt, zu lauschen. Aber ich wollte auch erfahren, wen meine beste Freundin Anke geküsst hatte, wie man am besten das Herz eines Jungen betören und wie man ohne zu husten rauchen konnte.
    Oft lief ich zu Ilse Westerholt, der ältesten Tochter unseres Nachbarns, und borgte mir Haarklammern oder eines ihrer Kleider. Ich hatte keine Geschwister – »Wovon sollten wir die ernähren?«, fragte meine Mutter – und Ilse flocht mein braunes Haar, wusch und schrubbte mir das Gesicht, bis es wehtat, und zeigte mir, wie man Augenbrauen zupfte. Ich hoffte, dass einer aus der Gruppe der älteren Jungen, die vor Fricks Krug mit ihren Mopeds herumstanden, mir hinterherpfeifen würde.
    Es war der letzte Sommer, in dem ich mit meinem Vater zum Gut der von Kamphoffs hinausfuhr, aber an manchen Tagen konnte ich mich nicht mehr dazu aufraffen, um 5 Uhr morgens Kaffee mit meinem Vater zu trinken und mich neben ihn in den Laster zu setzen. An den Tagen, an denen ich ihn begleitete, war es mir oft peinlich, neben ihm zu stehen oder ihm zu helfen. Ich war zu groß, zu ungeduldig, zu erwachsen und zu hübsch, um mit ihm Unkraut zu jäten.
    Eines Morgens, als der alte Herr von Kamphoff uns einen Besuch abstattete, schlich ich mich während einer seiner Kriegsgeschichten davon. Am vorigen Abend hatte mich Johann Jensen gebeten, am Sonnabend mit ihm auszugehen, und ich hatte ihm für heute eine Antwort versprochen. Es war eine schwere Entscheidung. Johann sah gut aus. Er war neunzehn, besaß ein Motorrad und arbeitete in Brümmers Fabrik. Aber sollte ich mit ihm gehen, würde mich Torsten Pott, Johanns bester Freund, keines Blickes mehr würdigen. Torsten war mir der Liebste, und er hatte zur Zeit keine Freundin. Aber ich wusste nicht, ob er an mir interessiert war. Und dann war da noch Martin, der Sohn des Gendarmen, den ich schon ein paar Male geküsst hatte, und der mich in der Woche zuvor um eine Haarklammer gebeten hatte, als wir uns vor der Bäckerei begegnet waren. War es ihm ernst? Er war erst vierzehn und hatte kein Moped, nur ein altes Fahrrad. Im letzten Winter war er mit den anderen Jungen auf der Droste gewesen, als Ankes Bruder ertrunken war. Aber nur Alex Frick war für schuldig befunden und in eine Anstalt eingewiesen worden. Seit dem Unfall benahm sich Martin sehr erwachsen und erschien sogar älter als Torsten. Anke sagte, dass ihr Martin der Liebste sei, aber dass keiner meiner Verehrer eine Zukunft und dass ihre Mutter sie ermahnt habe, dass wir uns für einen besseren Mann aufheben müssten. Ich war in einer Zwickmühle.
    Mein Lieblingsort auf dem Gut war das Labyrinth, das mehr als hundert Jahre zuvor angelegt worden war und dessen Hecken inzwischen fast zweimal so hoch waren wie ich. Mit dem Eintreten verdunkelte sich auch der hellste Tag, und solange ich mich darin aufhielt, fühlte ich mich, als ob ich nicht länger der gemeinen Welt altersschwacher Lastwagen, dummer Schulen und noch dümmerer Pflichten angehörte. Niemandes Stimme erreichte mich hier.
    Ich kannte die Gänge des Labyrinths seit meiner Kindheit und war mit ihnen vertraut gewesen, aber da meine Besuche seltener wurden, und weil mein Kopf voll war mit Jungen, Frisuren, Klamotten und Schminke, hatte ich mich bald verlaufen. Wenn man seine Orientierung einmal verloren hatte, war es nahezu unmöglich, sich wieder zurechtzufinden, und da die Sonne noch immer hinter Wolken verborgen war, hatte ich überhaupt keinen Anhalt. Doch beunruhigt war ich nicht. Obwohl das Labyrinth sich über mehr als einen Hektar ausdehnte und viele Helfer meines Vaters jede zweite Woche in Anspruch nahm, hatte ich alle Zeit der Welt, um wieder herauszufinden; es war ja noch früh am Tag.
    Mein Vater hatte den alten von Kamphoff immer wieder überreden wollen, das Labyrinth zu vernichten. Ohne Erfolg. Dabei hatte ich aber während meiner Erkundungen festgestellt, dass

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