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Hemmersmoor

Hemmersmoor

Titel: Hemmersmoor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Kiesbye
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die von Kamphoffs meine Liebe für die schattigen Gänge des Labyrinths nicht teilten. Sie hatten Rutger und Sophie als Kinder verboten, darin zu spielen, aus Angst, dass ihnen etwas zustoßen könnte, und ich hatte weder Bruno noch Karin von Kamphoff jemals in der Nähe des Irrgartens gesehen.
    Umso größer war meine Verwirrung, als ich plötzlich eine Gestalt am Ende des Ganges erblickte, die sich schnell nach links wandte und verschwand. Ich schrie auf. Ich war mir sicher, dass es keiner der Arbeiter war, und ich glaubte nicht eine Sekunde daran, dass die Gutsfamilie das Labyrinth betreten hatte. Wer war der Eindringling?
    Mein Herz schlug so laut, ich konnte nichts anderes mehr hören, und es beruhigte sich erst nach langen Minuten. Dann entschied ich, dass wer auch immer es gewesen war, er sich nun weit genug entfernt haben musste, dass ich vorsichtig nach einem Weg aus dem Irrgarten heraus suchen konnte. Ich ging dicht an der Hecke und bog schließlich nach links ab, da mein Vater mir beigebracht hatte, nur nach links zu gehen, sollte ich mich jemals verlaufen. Doch sobald ich in den nächsten Gang einbog, stieß ich auf den Eindringling.
    »Du hast mich gefunden«, kreischte er vor Freude, und ich kreischte zurück, und so kreischten wir beide mehrere Sekunden lang, bis ich außer Atem und mir sicher war, dass der Fremde mich nicht bedrohen würde.
    Er war ein sonderbarer Mann. Sein Alter ließ sich schwer erraten – er musste über dreißig sein, war aber wohl nicht älter als fünfundsechzig. Er hatte Falten und Furchen, und doch sah seine Haut geschmeidig und jung aus. Er war kaum größer als ich und stand gebeugt vor mir. Mit den Armen ruderte er in der Luft herum und sprang auf und ab wie ein kleines Kind.
    Er kam nicht aus Hemmersmoor; ich hatte ihn noch nie im Dorf gesehen, und er war nicht wie einer von uns angezogen. Noch nie hatte ich jemanden gesehen, der so angezogen war. Er trug ein weißes Hemd, das so groß war, dass es fast wie ein Kleid an ihm herunterhing, und weiße Hosen, die an den Knien verdreckt waren. Als ob er oft gefallen oder über den Boden gekrochen wäre. Sein rechter Fuß steckte in einem Hausschuh, und sein linker in einer schmutzigen Socke. Sein dünnes Haar trug er nach der Art, die in Hemmersmoor so verbreitet schien: Ein Topf war ihm über den Kopf gestülpt und sein Haar am Rand entlang abgeschnitten worden.
    »Noch einmal?«, fragte er und verschwand.
    »Warte«, rief ich, erhielt aber keine Antwort. Wer war dieser Mann?
    Nachdem er fortgelaufen war, zögerte ich, ihm zu folgen, doch meine Neugier war stärker als meine Vorsicht, und schon bald machte ich mich auf den Weg, schlich an den Hecken entlang und spähte um die Ecken. Während ich an einer Abzweigung überlegte, ob ich links oder rechts gehen sollte, wurde es mir vor den Augen schwarz.
    »Du bist nicht sehr gut, oder?«, sagte der Fremde mir ins Ohr. »Ich könnte an einem leeren Magen sterben, bevor du mich finden würdest.«
    Ich riss mich los und starrte in seine braunen Augen. »Du darfst dich nicht vom Fleck rühren«, beschwerte ich mich. »Du musst in deinem Versteck bleiben.«
    »Wer sagt das?«
    »Das ist die Regel.«
    »Ist es das?«, fragte er und machte ein trauriges Gesicht. »Ich hatte keine Ahnung.«
    »Wie soll ich dich denn sonst finden?«
    »Aber du hast mich nicht gefunden.«
    »Weil du umhergeschlichen bist.«
    »Wirklich?« Er schien ernsthaft darüber nachzudenken. »In Ordnung«, sagte er schließlich. »Du bist an der Reihe.«
    Ich folgte seiner Anweisung und ließ mich ohne Fragen auf das kindische Versteckspielen ein. Hätte ich mir Zeit genommen nachzudenken, wäre ich an der nächsten Hecke hochgeklettert, und hätte versucht, dem Irrgarten zu entkommen. Doch die eindringliche Stimme des Fremden, die wie Geschirrklappern klang, hatte mich abgelenkt. Ich versteckte mich.
    Innerhalb von zwei Sekunden hatte er mich gefunden.
    »Du bist mir gefolgt«, beklagte ich mich.
    »Und?«, fragte er.
    »Das ist gegen die Regeln.«
    »Wer sagt das?«
    »Das sind die Regeln.« Ich wurde plötzlich ärgerlich. »Was machst du hier überhaupt? Lebst du im Großen Haus?
    »Nicht jetzt«, sagte der Fremde. »Ich lebe hier.«
    »Wer bist du?«, fragte ich. Ich hatte selten Gelegenheit gehabt, mit den von Kamphoffs auch nur ein paar Worte zu wechseln, und nie ohne zuerst einen Knicks zu machen. Aber dieser Mann war anders, und ich begriff, dass Höflichkeiten nicht vonnöten waren.
    »Ich bin ein

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