Hemmersmoor
schon, Broder, es war doch ganz einfach.«
Der Junge drehte sich zu Alex um und grinste. Er schien sich nicht sicher, ob es Alex ernst war oder ob der nur einen Witz gemacht hatte. Ich sah zwischen beiden hin und her. Wir hielten noch die nassen Schals und Hemden in unseren Händen und starrten stumm vor uns hin. Die Welt schien lautlos geworden zu sein.
Dann sprang Broder zurück ins Wasser.
Wir warfen ihm seine Schuhe und Kleider später am Abend nach, zusammen mit den fünfzig Mark. Wir schworen einander feierlich, dass wir nie auch nur einen Mucks darüber sagen würden, keiner von uns.
Bernhard hielt sein Wort nicht, und die Hoffmanns gingen zur Polizei und wollten kein Geld von Alex’ Vater annehmen. Wir fünf Jungen waren alle schuldig, aber die Hoffmanns machten es uns anderen leicht. Sie hatten es auf Alex abgesehen, es war seine Idee gewesen. Es war sein Beil gewesen.
Nachts kam der alte Frick zu meinem Vater, dem Gendarmen, und ich konnte die Männer in der Stube aufeinander einreden hören. Lange Stunden hielten sie die Tür zur Stube geschlossen. Mein Vater wollte helfen, aber am Ende konnte auch er nichts ausrichten. Die Hoffmanns bestanden auf ihrem Recht; ihm waren die Hände gebunden, denn er musste an seinen eigenen Sohn denken. Ende März wurde Alex für drei Jahre fortgeschickt, und wir anderen wünschten uns, dass auch wir Hemmersmoor hätten verlassen können.
LINDE
Im Sommer, als ich dreizehn Jahre alt wurde, lebten drei Generationen der von Kamphoffs im Großen Haus, aber der alte Gutsbesitzer hatte sich aus den Geschäften zurückgezogen, und sein ältester Sohn Bruno leitete nun den täglichen Betrieb. Er war in seinen Vierzigern und ähnelte seiner Mutter. Bruno hatte nichts von den harschen Zügen seines Vaters geerbt, er hatte melancholische braune Augen, lange Finger und Gliedmaßen, und er spielte genauso häufig auf dem Klavier wie die alte Herrin. Er war im Dorf nicht sehr beliebt, weil er als schwach und weibisch galt. Wie dem auch sei, er verstand es, seine Untergebenen – Köche, Dienstmädchen, zwei Diener, einen Chauffeur und einige Dutzend Landarbeiter – herumzukommandieren. Und natürlich hatte er auch meinen Vater, der jeden Tag mit seinem launenhaften Lastwagen aufs Gut fuhr, im Griff. Der Laster hatte vorne nur ein Rad, eine Konstruktion, die schon in meiner frühen Kindheit nicht mehr modern und Anlass zu vielen Sticheleien im Dorf gewesen war. Zum Leidwesen meiner Mutter, zahlte Bruno meinem Vater keinen Pfennig mehr, als es der alte Johann von Kamphoff getan hatte.
Brunos Frau war vor vielen Jahren eine bekannte Sängerin in Hamburg gewesen, und die Frau des Apothekers, Rosemarie Penck, schwor, dass Karin von Kamphoff ihr Geld als Dirne in einer Revue auf der Reeperbahn verdient hatte, bevor sie ins Große Haus gezogen war. Die neue Herrin war keine Schönheit, aber sie war eine eindrucksvolle Erscheinung. Sie hatte klargeschnittene Züge, eine große Nase, einen großen Mund, große eisblaue Augen und eine hohe Stirn. Ihr Körper war an den rechten Stellen gepolstert, sagten die Männer im Dorf, und zum Weihnachtsfest sang sie vor ihren Gästen, während ihr Gatte sie am Klavier begleitete. »Dieser Tage«, sagte Frau Penck, »muss sie sich nicht ausziehen, um sich Gehör zu verschaffen.«
Wie jede Familie, die sich unseren neugierigen Blicken entzog, gaben uns die von Kamphoffs Stoff für unzählige Gerüchte. Der Keller sei bis an die Decke mit Kriegsbeute gefüllt, besagte eines. Der Keller sei der Ort schwarzer Messen, lautete ein anderes. Uneheliche Kinder waren ein beliebtes Thema sowie die schwarze Frau, die Johann aus Afrika nach Hemmersmoor verschleppt haben sollte. Die hartnäckigste Geschichte war jedoch die Legende des wahren Erben. Der wahre Erbe, behaupteten die Stammgäste in Fricks Krug, war so wirklich wie die Sonne und Sterne am Himmel, und viele berichteten davon, ihn vor mehr als vierzig Jahren noch gesehen zu haben, bis der Knabe eines Tages verschwunden war. Er war der jüngere Bruder Johanns gewesen und hatte wegen eines gewalttätigen Streits zwischen Johann und seinem Vater den ganzen Besitz erben sollen. Doch niemand hatte ihn seit der Zeit vor den Kriegen erspäht, und manche Nacht wurde in Fricks Gaststube wirr spekuliert, dass Johann an seinem Verschwinden maßgeblich beteiligt gewesen sei. Sollte er je wieder auftauchen, würde Bruno das Gut verlieren.
Brunos Kinder, Rutger und Sophie, waren in dem Sommer, als ich meinen
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