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Hemmersmoor

Hemmersmoor

Titel: Hemmersmoor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Kiesbye
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Vaters aus, und seine Finger waren mit trockenem Blut verschmiert. Auch die Wangen und die Stirn und seine Hosen waren blutig und schmutzig. Er saß ganz aufrecht da und summte vor sich hin.
    »Hallo«, sagte ich, doch erhielt keine Antwort. »Heh da, Herr Professor.«
    Diesmal sah er auf, anscheinend ohne mich zu erkennen.
    »Hast du dieses Loch gegraben?«, fragte ich und brachte mich in Position, um in die Grube hinunterzuspringen.
    »Vorsichtig«, sagte er. »Tritt sanft auf.«
    »Klar doch«, sagte ich. In einer Hand trug ich meine Vorräte, die andere streckte ich aus, um mein Gleichgewicht auf dem Weg nach unten zu halten.
    »Ach nein«, schrie er, als ich neben ihm landete, und hielt sich mit zitternden Händen die Ohren zu.
    »Was ist los?«, fragte ich.
    »Hab ich dich nicht um Vorsicht gebeten?«, scholt er mich. »Deine Gedankenlosigkeit mag uns schweren Schaden zugefügt haben.«
    »Wie denn das?« Ich unterdrückte ein Lachen. Er sah in seinen schmutzigen Kleidern so komisch aus, fast wie ein Kind nach einem besonders wilden Nachmittag im Schlamm.
    »Ein falscher Schritt, und wir können durch die Erdkruste brechen und auf der anderen Seite herausfallen und in den Wolken verlorengehen.«
    Ich glaubte, dass er mich zum Narren halten wollte, doch als ich mich wie ein Dieb näher an ihn heranschlich, begann ich zu begreifen, dass es ihm ernst war.
    »Ich habe dieses Loch gegraben, um auf die andere Seite zu gelangen, dort wo schwarze Menschen auf ihren Köpfen herumlaufen. Aber ich fürchte, ich werde mich nicht festhalten können, wenn ich aus dem Tunnel herauskomme. Vielleicht könntest du es schaffen?«
    »Ich habe dir Essen mitgebracht«, sagte ich, weil mir keine Antwort auf seinen Unsinn einfallen wollte.
    »Ich habe die Nacht nicht gern«, sagte er mit wichtiger Miene. »Die Sterne sind kalt und hinter ihnen hausen Engel, die deinen Atem rauben, um sich zu wärmen.« Er packte Brot und Schinken aus und sagte: »Eine ziemlich einfache Mahlzeit«, und aß dennoch. Er schmatzte laut.
    »Wie werde ich dich bezahlen?«, fragte er, nachdem er auch den letzten Krümel vertilgt hatte und mit zwei Fingern Marmelade aus dem Glas in seinen Mund löffelte.
    »Du musst mich nicht bezahlen«, sagte ich. »Aber antworte mir. Bist du der wahre Erbe? Der von dem alle sprechen?«
    »Der wahre Erbe?«, fragte er. »Von was?«
    »Vom Großen Haus?«
    »Natürlich gehört das mir«, sagte er. »All das gehört mir.« Er ruderte mit den Armen, was ich als ein Zeichen deutete, dass er den ganzen Besitz meinte.
    »Wo hast du denn dann all die Jahre gesteckt? Warum bist du nicht der Herr des Gutes?«
    Er sah mich mit großen Augen an. Offensichtlich hatte er mich nicht verstanden. »Es ist mein«, wiederholte er. »Es gehört mir, und ich werde dich zur Herrin machen.« Aus den Tiefen seines Hemdes holte er ein Ledertäschchen hervor, und daraus entnahm er einen großen, goldfarbenen Schlüssel. »Dies gibt dir Vollmacht über mein Gut, sollte ich eines Tages nicht mehr hier sein. Wer immer diesen Schlüssel trägt, wird reicher sein als der Kalif von Bagdad.«
    Ich nahm den Schlüssel entgegen und steckte ihn in meine Tasche. »Warum habe ich dich noch nie hier gesehen? Nicht ein einziges Mal? Seit ich klein war, habe ich hier im Irrgarten gespielt und habe dich nie getroffen.«
    »Ich habe dich selbst nicht gesehen. Und ich bin mein ganzes Leben hier gewesen.« Er lachte über seine Antwort und schien mit sich selbst sehr zufrieden.
    Ich wartete auf eine weitere Erklärung, aber der Fremde verstummte und saß bewegungslos in seinem Loch, offenbar aus Angst, dass er durch die Erde brechen könnte.
    Schließlich war es für mich an der Zeit zu gehen. Ich kletterte aus der Grube, versprach ihm, am nächsten Morgen zurückzukehren und ihm mehr zu essen zu bringen. Als Antwort hielt er sich einen marmeladenverschmierten Finger an die Lippen.
    *
    Auf dem Nachhauseweg war mein Vater schlechter Laune. Während unser Laster keuchte und uns durchschüttelte, verfluchte er Bruno von Kamphoff und dessen Geiz. Er schimpfte auf den Aufseher, der sich in seine Arbeit einmischte, auf meine Mutter, weil sie immer mehr haben wollte, als er ihr geben konnte, und auf sich selbst, weil er nur ein einfacher Gärtner und ein schlechter Ehemann war. »Ich dachte immer, dass ich eines Tages reich sein würde«, sagte er. »Als Junge träumte ich von Abenteuern im Nahen Osten und im Wilden Westen. Ich stellte mir vor, dass ich eines Tages wie die

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