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Hemmersmoor

Hemmersmoor

Titel: Hemmersmoor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Kiesbye
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Leben zerfiel. Hier saß ich, Linde Janeke. Voller Scham, voller Wut und ohne die geringste Hoffnung darauf, dass ich Hemmersmoor würde verlassen können. Und in einem anderen Auto, das genauso aussah wie das erste, saß eine andere Linde, deren Rückkehr ins Dorf nur der Auftakt zu einem neuen Leben war, einem Leben, das sie in fremde Städte und Länder bringen würde, einem Leben, das sogar noch jenseits der Träume ihres Vaters lag. Ich hatte diese neue Linde ganz klar vor Augen, ich konnte fühlen, was sie fühlte, doch dann winkte sie mir zu und rückte langsam von mir ab, ganz langsam, sie schien neben uns zu fahren und dann, an der nächsten Kreuzung, bog sie auf die Straße nach Groß Ostensen ab und entfernte sich schnell. Ich habe diese Linde nie wiedergesehen.
    Im Herbst ging ich nicht mehr zur Schule. In den Augen meiner Eltern hatte ich erneut Schande über sie gebracht. Mein Vater mochte sich nicht mehr auf dem Gut zeigen, er hatte Arbeit in Groß Ostensen gefunden, in einem Lebensmittelladen, wo er nachts die Regale auffüllte. Gegen Abend fuhr er in seinem alten Lastwagen los und kam erst früh am Morgen zurück.
    Während er tagsüber schlief, musste es bei uns still sein. Ich verbrachte die Tage mit Ilse, sie war die einzige, die noch mit mir sprechen mochte. Unser Unglück band uns erneut zusammen. Ich hatte nichts mehr von ihrem Kummer wissen wollen, aber jetzt teilte ich den meinen mit ihr, und sie schien meine Gesellschaft zu begrüßen. Wir waren beide vom Großen Haus, wir waren beide von Rutger betrogen worden.
    Anke sah ich nur von weitem, und ich wich ihr aus. Ich wollte ihr das Genick brechen, ihr die braunen Haare ausreißen, sie mit Glasscherben zerschneiden, aber sobald ich sie erblickte, verließ mich der Mut. In jenen Augenblicken glaubte ich selbst, dass ich Annas kleines Mädchen hatte fallen lassen.
    Doch mehr noch als Anke hasste ich Rutger. Er war es, der Ankes Lügen geglaubt hatte. Er war es, der mich verraten hatte, nach all den Jahren, die mein Vater für seine Familie geschuftet hatte. Rutger und Anna hatten mein Schicksal besiegelt. Sie waren es, die mich betrogen hatten.
    »Wäre es nicht wunderbar, wenn du dich rächen könntest?«, fragte mich Ilse eines Tages.
    Ich hatte keine Hoffnung. Was konnte ich gegen die von Kamphoffs ausrichten? »Aber wie?«, fragte ich.
    Ilse seufzte, aber sie antwortete nicht.
    Im Herbst nahm sie mich mit auf die Felder, wo die Kinder Drachen steigen ließen. »Sie sehen hübsch aus«, sagte meine Freundin. Wir sahen ihnen bis zum Einbruch der Dunkelheit zu, bis schließlich auch der letzte Nachzügler seinen Drachen einholte und sich auf den Heimweg machte. Einer der Jungen blickte uns neugierig an.
    »Hallo da«, sagte Ilse.
    Der Junge blieb stehen, sagte aber kein Wort..
    »Hast du Angst vor uns?«, lachte Ilse.
    Der Junge streckte uns die Zunge heraus. »Du bist blöde«, sagte er. »Ich hab keine Angst vor dir.«
    »Warum bist du allein? Fürchtest du dich nicht vor dem Fluch der Bettelfrau?«
    Der Junge wich ein paar Schritte zurück »Mein Vater sagt, du bist eine alte Jungfer. Und du«, sagte er zu mir, »bist eine Diebin und so hässlich, dass dich keiner will.« Mit diesen Worten rannte er davon.
    *
    Ich trug die Kleider meines Vaters, seine schweren Stiefel, seinen Hut. Ilse bestand darauf. »Er darf dich nicht erkennen. Soll er dich ruhig für einen Mann halten.« Sie lächelte mir zu, sagte, sie sei glücklich, mich an ihrer Seite zu haben. »Ich fürchte mich vor seiner Wut. Wenn ich allein wäre, würde mir gewiss etwas zustoßen.« Sie hatte Rutger in einer Nachricht um ein letztes Treffen gebeten, hatte gedroht zum Gut zu kommen, sollte er nicht zur verabredeten Stunde auf dem Moor erscheinen.
    »Was wirst du ihm sagen?«, fragte ich Ilse.
    »Er soll mich nur anzuhören. Ich habe ihn in all den Monaten nicht sprechen können, so als ob wir einander nie begegnet wären. Er soll wissen, dass ich ihn nicht vergessen habe.«
    Trotz der kühlen Novembernacht schwitzte ich in den schweren Kleidern meines Vaters, meine Füße rutschten in den viel zu großen Stiefeln umher. »Wenn er mich erkennt, wird er meiner Familie das Leben zur Hölle machen.«
    »Halt dich nur etwas abseits«, sagte Ilse. »Aber ich brauche deine Augen und Ohren. Du sollst Zeuge sein. Pass nur auf, dass er mir nichts antut.«
    Es war noch vor der Zeit, aber kaum waren wir an unserem Treffpunkt angelangt, als ich eine dunkle Gestalt auf uns zukommen sah.

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