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Hemmersmoor

Hemmersmoor

Titel: Hemmersmoor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Kiesbye
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brach sie dem kleinen Mädchen das Genick. Es dauerte einen Moment, bis er das verstand, und einen Augenblick lang glaubte ich, dass sie auch seinen Willen gebrochen hatte. Doch sie hielt ihm das tote Mädchen hin und sah, wie ihn die Wut übermannte, wie er sie ansah, als müsse sein Blick das Bild von Ilse und dem toten Mädchen für immer aufbewahren. Sie wartete auf ihn, sie ließ das Mädchen vor sich herbaumeln.
    Ilse ließ alles geschehen. Sie gab sich ihm hin, sie ließ sich von ihm überwältigen. Aber ich rannte, rannte um mein Leben. Sobald Rutger sie gepackt hatte, richtete ich mich auf und lief zurück aufs Dorf zu, lief, bis mein Atem wie Feuer in mir brannte. Ich verlor einen der großen Stiefel, der Hut meines Vaters flog mir vom Kopf, aber ich wandte mich nicht ein einziges Mal um.
    In stillen Momenten werde ich von Ekel geschüttelt. Mein Spiegelbild ist mir zuwider und flößt mir Angst ein. Es leuchtet blässlich und sieht mich fragend an, als ob ich ein bloßer Abglanz sei. So stehen wir uns oft minutenlang gegenüber und schauen einander an, bis dunkle Laute aus meiner Kehle emporsteigen, mir den Hals zerkratzen und mir die Lippen auseinanderzwingen. Doch jedes Mal bedeutet mir die Frau in meinem Spiegel mit einer raschen Geste und einem wütenden Blick, zu schweigen. Ich wende dann den Blick ab.

MARTIN
    Sie wurden jung verheiratet – sie war fünfzehn und die jüngere Tochter der armen Witwe Klein, er siebzehn und ein Lehrling in Brümmers Fabrik. Mein Vater trug zu ihrer Hochzeit seine Polizeiuniform und erzählte jedem, dass Olaf Frick nur Holzspäne im Kopf habe. So ein Windhund würde die Familie noch in den Ruin treiben.
    Olafs Liebe zu Hilde machte ihn trunken. Er dachte ständig an ihr flachsblondes Haar, die roten Flecken, die seine Finger auf ihren Armen zurückließen, den weichen, fast durchsichtigen Flaum in ihrem Nacken und eine Stelle, die nur er sehen durfte. Auf der Arbeit träumte er von ihren stämmigen Beinen, und nachts versuchte er, seinen Durst zu löschen. Doch wie müde er am Morgen auch war und wie oft er an der Werkbank auch gähnte und eine Pause einlegen musste, sobald er nach Hause kam, war sein Durst nicht zu stillen.
    Olaf war Fricks Erstgeborener, aber er wollte von der Gaststube und dem elterlichen Betrieb nichts wissen. Er mochte nicht mit den Gästen sprechen, mochte sie nicht bedienen. Er hasste es, die Gaststube nach Feierabend zu wischen, zu wachsen und zu bohnern. Er würde sein eigenes Geld verdienen, er wollte sich nicht ins gemachte Nest setzen. Sein Vater Bernd schüttelte den Kopf über so viel Undankbarkeit. Doch er war es gewesen, der bei Otto Nubis, dem Vormann in Brümmers Fabrik, ein gutes Wort für seinen Sohn eingelegt hatte.
    Olaf wurde gefeuert, als seine Nachlässigkeit Jan Hussel die linke Hand kostete. Er fuhr auf seinem Fahrrad die zehn Kilometer nach Groß Ostensen und besuchte Jan, um sich bei ihm zu entschuldigen, aber Jan wollte nicht hören, was Olaf sich zurechtgelegt hatte.
    »Es ist deine Schuld, wie sehr es dir auch leidtut. Schau dir meine Hand an.« Er hob den Stumpf in die Höhe; Blut sickerte durch den weißen Verbandmull. »Glaubst du, dass meine Frau sich von diesem Ding berühren lassen will? Glaubst du das wirklich? Wenn du zu deinem Hildchen nach Hause gehst, denk an meine Hand. Ich wünschte, es wäre deine gewesen.«
    Olafs Geld und das Bisschen, das Hilde dazusteuerte, indem sie auf dem einen oder anderen Bauernhof aushalf, war genug gewesen, um in einem kleinen Torhaus auf dem Besitz der von Kamphoffs zu wohnen. Es war nur ein Haufen Steine und hatte, seitdem das Große Haus gebaut worden war, leergestanden. Es lag abseits des Gutes im Moor, einen Kilometer außerhalb von Hemmersmoor, und wie sehr man sich auch bemühte, konnte man es im Januar in der schneeverwehten Landschaft nicht ausmachen.
    Arbeit war knapp, Olafs Ruf dahin, und nachdem er einige Monate zähneknirschend mit Hilfe seiner Eltern über die Runden gekommen war, nahm ihn sein Vater beiseite. »Es ist Zeit, dass du an deine Frau denkst«, sagte er. Bernd Frick war einen Kopf kleiner als sein Sohn und bewegte sich langsam, als ob Gewichte seinen Körper beschwerten. Er war fast sechzig Jahre alt und hielt sich sehr aufrecht. Er stand noch immer jeden Tag hinter dem Tresen, und ohne die Großzügigkeit, die er Otto Nubis gegenüber in der Gaststube zeigte, hätte der Vormann Olaf überhaupt erst gar nicht eingestellt.
    Olaf wusste keinen Rat, aber er

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