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Hemmersmoor

Hemmersmoor

Titel: Hemmersmoor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Kiesbye
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Ilse Westerholt, lag mit Grippe im Bett, als das neue Jahr begann, und ihre Genesung schleppte sich hin. Ich hatte nie Geschwister gehabt, aber Ilse hatte mich oft wie ihre kleine Schwester behandelt, und so kam es, dass ich die Warnungen meiner Mutter in den Wind schlug und jeden Tag zu ihr hinüberlief und ihr Gesellschaft leistete. Ihre Schwester Irene hatte das Bett neben Ilse aufgegeben und schlief auf dem Dachboden, damit sie nicht von der gleichen, qualvollen Schwäche erfasst werden würde; wir hatten das Zimmer für uns allein. Und mit Ilse war ich vor dem Getratsche über Heidrun Brodersen sicher, denn die Kindsmorde, sagte sie, seien ihr zu schrecklich. Stattdessen befahl sie mir, Bücher aus der Stube in ihre Kammer hinaufzubringen, und wenn ich ihr von den Werwölfen vorlas, die ihre Familien im Dreißigjährigen Krieg verteidigt hatten, setzte sie sich auf und hörte gebannt zu.
    »Rotes Haar?«, fragte sie zu einer der Heldinnen der Geschichte. »Oh Linde, ich hätte gerne rotes Haar. Aber keine Sommersprossen. Sommersprossen sind so dörflerisch.« Sie schrie entzückt auf, wenn eine der Frauen zu den Waffen griff und in den Kampf zog. Sie schwang die Arme, ballte die Fäuste und rief, »Recht so.« Ich war fast fünfzehn, Ilse neunzehn, alt genug, um verheiratet zu sein. Ihr Vater wollte sie aus dem Haus haben, aber er konnte keine Aussteuer zahlen, hatte kein Land abzutreten, und er drohte ihr oft, sie dem nächstbesten armen Teufel anzubieten.
    Ilse war dünn und hatte kohlrabenschwarzes Haar. Ihre Haut war weiß und sanft, und sie jammerte fast jeden Tag über ihre Hände und Füße, die ihr zu groß erschienen. »Schöpfkellen«, sagte sie und breitete ihre langen Finger vor mir aus. Von der Arbeit im Haus und im Garten waren ihre Hände rauh und gerötet, und sie rieb sich jeden Abend mit Fett und Salben ein. Ilse zwang sich Morgen für Morgen in die kleinsten Schuhe und ertrug den Schmerz – sie wollte nicht wie Aschenputtel aussehen.
    Ilses Herz schlug für Rutger von Kamphoff, und er hatte ihre Liebe erwidert. Doch seine Eltern waren die Herren des Großen Hauses, sie waren reiche Gutsbesitzer und hatten andere Pläne für ihren Erstgeborenen. Vor ihrer Krankheit hatten Ilse und Rutger sich wöchentlich auf dem Moor getroffen, doch nun hatte sie ihn schon seit drei Wochen nicht mehr gesehen. Die Gerüchte, dass Rutger ein Mädchen an jedem seiner Finger hatte, hatten Ilse nie gekümmert, aber je länger sie das Bett hüten musste, umso launenhafter wurde sie. Sie hatte Ringe unter den dunklen Augen, und ihre Haut schimmerte fast grünlich.
    Eines Nachts, nicht lang nach dem Dreikönigstag – Ilses Eltern hatten das Haus verlassen, um einen Nachbarn zu besuchen –, pochte es an der Haustür. Ich hatte Ilse vorgelesen und rief nun nach Irene, die sofort die Treppe herunterkam, um zu sehen, wer auf der Veranda stand. Kurz danach steckte sie den Kopf in Ilses Zimmer und sagte: »Nur eine Bettlerin mit ihren zwei Kindern.«
    »Was wollte sie?«, fragte Ilse.
    »Frag nicht blöd«, antwortete Irene. »Sie sagte, ihre Kinder wären durchgefroren und sie wären auf der Suche nach einer Bleibe für die Nacht.«
    »Hast du ihnen die Scheune aufgetan?«, fragte Ilse.
    »Ich hab sie fortgeschickt. Mutter und Vater sind fort. Ich mag das nicht entscheiden.«
    Nachdem Irene die Tür geschlossen hatte, eilten Ilse und ich ans Fenster, doch obwohl die Nacht klar war, konnten wir die Bettelfrau nirgends sehen.
    »Wir hätten ihr etwas Warmes zu trinken anbieten und sie in unserer Scheune schlafen lassen sollen «, sagte Ilse, aber die wenigen Schritte zum Fenster hatten sie bereits erschöpft. Ihr war schwindlig, und ihre Knie gaben nach. Ich musste ihr zurück ins Bett helfen.
    Zwei Nächte später hüllte sie sich in ihren dicken Wollmantel, und obwohl ihre Stirn noch immer heiß glühte, lief sie aufs Moor hinaus und wartete auf Rutger. Es hatte zu schneien begonnen, die Flocken wirbelten um sie herum, und sie konnte nicht weiter als ein paar Schritte in jede Richtung sehen. Ihr Herz schlug, als ob es ihr aus der Brust springen wollte. Sie wartete über eine Stunde an ihrem alten Treffpunkt, dann trieb die Kälte sie fort und ins Dorf zurück.
    Ilse machte Irene Vorwürfe, aber ihre Schwester versicherte ihr, dass sie Rutger die Nachricht selbst überbracht hatte. Ilse ohrfeigte sie, bis Irenes Augen tränten und ihre Wangen sich dunkelrot färbten. Sie beschimpfte Irene und riss lange Strähnen

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