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Hemmersmoor

Hemmersmoor

Titel: Hemmersmoor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Kiesbye
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ihres Haares aus, aber immer noch behauptete die Schwester, Rutger den Brief gegeben zu haben.
    *
    Als das Eis Anfang Februar taute und der Fluss die Boote unserer Väter wieder übers Moor trug, fand der alte Torfstecher Jens Jensen eine Frau und ihre zwei Kinder, die in der Klosterruine erfroren waren. Es war die Bettlerin, die Irene von der Tür gewiesen hatte. Und als die Nachricht von Jensens Entdeckung sich im Dorf ausbreitete, fand jede Familie einen Grund, warum sie der Frau nicht erlaubt hatten, sich an ihrem Feuer zu wärmen. Niemand hatte ihr Quartier gewährt. Alle gaben sich mit den genannten Gründen zufrieden. Was sonst hätten sie tun sollen?
    Die Nachricht vom Tod der Bettelfrau bekümmerte Ilse und verfinsterte ihr Gemüt. Wenn ich in ihre Kammer trat, lag sie da und starrte vor sich hin. Wenn ich ihr vorlas, machte sie keine Bemerkungen, sie schien den Beschreibungen der Frauen keine Aufmerksamkeit zu schenken. Was war mit Rutger geschehen? Warum bekam sie keine Nachricht mehr von ihm?
    Schließlich hörte Ilse von ihrem Geliebten, aber sie bekam keinen Brief mit einer getrockneten Blume darin, keine Schleife. Er schrieb ihr nicht, dass er es kaum erwarten konnte, sie wieder auf dem Moor zu treffen. Stattdessen war es Gertrude Böttcher, die uns allen, die wir in die Bäckerei gekommen waren, um unser Brot, unsere Mandelhörnchen und Marmeladen zu kaufen und einen Kuchen für den kommenden Sonnabend zu bestellen, die große Neuigkeit erzählte. Ilse und ich standen genau wie die anderen Frauen in einem Kreis um Gertrude herum.
    »Er wird Fricks Tochter heiraten. Nicht, was die sich ausgemalt hatten, aber die Aussteuer lohnt sich. Die sollten sich besser mit der Hochzeit beeilen, sonst wird sie in ihrem weißen Kleid wie eine Kuh aussehen.«
    Die Frauen in Hemmersmoor gackerten und kreischten. Die Hochzeit war eine willkommene Nachricht, eine gute Nachricht, und Anna Fricks Schande, ein Kind unter ihrem Herzen zum Traualtar tragen zu müssen, brachte Leben in einen trostlosen, matschigen Februar. Im allgemeinen Trubel der Bäckerei bemerkte niemand außer mir, wie still Ilse geworden war, wie ihr das Blut aus den Wangen wich und wie die Zweifel, die sie seit über einem Monat gehabt hatte, nun zur Gewissheit geworden waren. Als wir Meiers Bäckerei verließen, schien sie fast leblos und musste nach zwei Tagen erneut das Bett hüten, dieses Mal, bis die Krokusse ihre bunten Häupter zeigten.
    *
    Die Bettelfrau war Wochen zuvor begraben worden, schnell und ohne Zeremonie, aber Jens Jensen, der sich wegen seiner Entdeckung nun für einen Experten in der Sache hielt, behauptete, dass ihr Tod ein böses Omen sei und Hemmersmoor sich auf bevorstehendes Unglück vorbereiten müsse. Natürlich erwartete Jensen immer bevorstehendes Unglück, und wenn ihm einer der Männer in Fricks Krug einen Schnaps spendierte, ratterte er etliche böse Omen herunter, die er während seiner Tage im Moor beobachtet hatte.
    Im März erfuhren wir, dass die Hochzeit für Juni geplant war; Rutger und Anna erwarteten das Kind einen Monat später. Sogar Ilse und ihre Eltern hatten eine Einladung erhalten. Sie zeigte mir die Karte, ließ ihren Finger über Anna Fricks Namen gleiten. »Kannst Du dir das vorstellen?«, fragte sie. »Sie wird nun die neue Herrin des Großen Hauses werden.« Doch es schien ihr besser zu gehen. Sie ließ sich jeden Tag im Dorf sehen und ging wieder regelmäßig in die Bäckerei. Sie lief erhobenen Hauptes umher.
    *
    Ich vermutete nichts. Ich hatte keine Ahnung, was Ilse sich in den Kopf gesetzt hatte. Die Vorbereitungen müssen der hässlichste Teil gewesen sein. Aber um Rache zu schmecken, darf man sich nicht über den Geruch der Zutaten beklagen. Rutgers Betrug hatte sie getroffen, aber nun, da sie wieder genesen war, musste sie den Vorteil ihrer heimlichen Beziehung mit dem Sohn des Gutsbesitzers verstanden haben. Niemand im Dorf bemitleidete sie oder belästigte sie mit Fragen. Ihr war das Herz gebrochen worden, aber es gab keine sichtbaren Wunden, keine verräterischen Spuren, die neugierige Blicke auf sich gezogen hätten. Niemand stellte Fragen. Während Ilses Krankheit hatte Irene deren Pflichten im Haus übernommen und sich oft darüber beklagt. Nun, da Ilse wieder wohl war, gab sie vor, Schwächeanfälle und Ohnmachten zu haben, um sich ihre Freiheiten zu bewahren.
    Gerüchte, dass der Geist der Bettelfrau am Drosteufer gesehen worden war, gingen um, und als zwei Jungen in der darauffolgenden

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