Hemmersmoor
Woche ein kleines Mädchen tot aus dem Wasser fischten, richtete sich die Aufmerksamkeit des Dorfes auf diese neue, besorgniserregende Gefahr.
Der schreckliche Fund entfachte ein Feuer, und bald stieg den Dorfbewohnern überall der Rauch in die Nase. Bevor die Enkeltochter des alten Doktors tot geboren wurde, wollten die Nachbarn einen riesigen, schwarzen Schatten über dem Haus gesehen haben. »Es war die Bettlerin«, wusste die Bäckersfrau zu berichten. Andere hatten Kühe, Fohlen und Katzen nach Dunkelheit um Häuser herumschleichen sehen. Viele Tiere wurden zu Tode geprügelt, um den bösen Geist der Bettlerin auszutreiben.
Als Rutgers Hochzeit näherrückte, nahm Hemmersmoor den Fluch der Bettelfrau als eine gemeinsame Last hin. Wir waren ihm ausgeliefert, niemand wusste Hilfe. Wenn die Frauen im Dorf die Wehen bekamen, schickten sie nach dem Pastor, aber selbst dessen Anwesenheit bot den Neugeborenen keinen Schutz.
Wir Nachbarn hatten uns in Martha Dinters Stube versammelt, um ihr bei der Geburt ihres ersten Kindes zu helfen. Der Pastor war anwesend, um Beistand zu leisten. Marthas Ehemann war vom Pferd gefallen und lag hilflos im Bett. Ich brühte Wasser auf und versorgte Martha mit frischen Handtüchern. Ilse ging der Hebamme zu Hilfe, und eine Stunde, nachdem Marthas Junge in die Höhe gehalten worden war und seinen ersten Schrei getan hatte, war er tot, sein Gesicht blau und die Zunge geschwollen. »Die Bettelfrau«, schrie Martha. »Die Bettelfrau.« Und die Schande, einer armen Frau und ihren Kindern kein Quartier gewährt zu haben, ließ jeden Zweifel, dass nicht alles mit rechten Dingen zuging, ein für allemal verstummen. »Wir sind die Opfer unseres eigenen Verbrechens«, sagte Ilse, Arme und Stirn noch blutig von der Geburt. Sie sah erschöpft und glücklich aus.
*
Meine Familie war wie die anderen zur Hochzeit eingeladen worden, und es war das erste und einzige Mal, an das ich mich erinnern kann, dass Fricks Krug den durstigen Bauern und Torfstechern die Türen versperrte, und das erste Mal, dass die Familie von Kamphoff nach Hemmersmoor kam, um mit einigen Dorfbewohnern zu feiern. Viele starrten den Chauffeur an, der die Türen des schwarzen Mercedes öffnete, und die Familie selbst, die sich mit Mühe aus den gepolsterten Sitzen der Limousine erhob und auf unser Kopfsteinpflaster trat. Ich begleitete meine Eltern und stand daneben, als Anna und Rutger den ersten Tanz eröffneten, und sah, wie das neue Leben Annas Kleid ausbeulte. Nach den ersten Schritten musste sich die Braut gleich wieder setzen; zu schwer war ihre Last. Ilse saß neben ihren Eltern. Sie tanzte nicht ein einziges Mal und ließ Anna nicht aus den Augen.
Anna zog ins Große Haus ein, wo sie bald ein Mädchen gebar. Ihr Ehemann, der sich auf seinen Vater und dessen Verwalter und Arbeiter verlassen konnte, wachte über seine neue Familie, und niemand im Dorf bekam sie zu Gesicht. Doch vor Ende des Sommers bekam ich die Nachricht von unserem Lehrer, Herrn Brinkmann, dass ich das Stipendium der von Kamphoffs erhalten würde. Für ein paar Tage vergaß ich die Narben, die sich über mein Gesicht zogen. Dies war meine glücklichste Zeit in Hemmersmoor, die Zeit, da ich glaubte, dem Dorf entkommen zu können. Ich wollte mich in der Sonne des Großen Hauses wärmen. Ich wollte studieren und mich in die weite Welt aufmachen. Ich wollte von Ilse und ihrem Kummer nichts mehr wissen. Ja, Rutger von Kamphoff hatte sie verraten, aber seine Familie würde für meinen Unterricht zahlen. Ilse hatte Rutgers Liebe nicht gewinnen können, und sie würde nie ins Große Haus einziehen, aber ich würde dort ein und ausgehen. Ich würde Anke und ihre dummen Kleider und Schleifen und ihre glotzäugigen Anbeter hinter mir lassen.
Für ein paar kurze Tage fühlte ich mich zu groß für die niedrigen Häuser in unserer Straße, ich ragte über Ilse und Anke und über all die Frauen und Männer auf unserem Dorfplatz hinaus. Für ein paar kurze Tage war ich etwas Besonderes.
Doch als Anke mich verriet, fiel meine Welt in sich zusammen, und nachdem ihr mein Stipendium angeboten wurde, war mir klar, dass ich dem Dorf nie entkommen würde. Ich erinnere mich gut an unsere Fahrt zurück ins Dorf. Jedes kleine Geräusch kam mir ohrenbetäubend laut vor, und ich habe noch immer den Geruch meines billigen Parfüms und den des Sitzleders in der Nase. Ich betrachtete die grünbraunen Felder und die harten Gräser am Wegrand, und ich sah plötzlich, wie mein
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