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Hemmersmoor

Hemmersmoor

Titel: Hemmersmoor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Kiesbye
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Mein Herz schlug fürchterlich. Wie sollte ich Rutger davon abhalten, Ilse wehzutun? Erst jetzt bemerkte ich, wie dumm es von mir gewesen war, meiner Freundin aufs Moor zu folgen.
    Doch es war nicht Rutger, der auf uns zuschritt. Mit Staunen sah ich, dass es Anna war, die mit einem Bündel im Arm zu uns herübergelaufen kam. Ihr Mantel war aus Pelz, ihre Schuhe waren aus glänzendem Leder. Auf den Kopf trug sie eine runde Pelzkappe, und ihre Hände steckten in feinen Handschuhen.
    »Was macht sie hier?«, fragte ich Ilse leise, aber sie bedeutete mir, still zu sein.
    Anna schien sich nicht vor Ilse zu fürchten, aber als sie mich wahrnahm, verlangsamten sich ihre Schritte. »Wen hast du da?«, fragte sie.
    »Einen Freund«, sagte Ilse. »Er muss uns mit dem Zauber helfen.«
    Als sie näher trat, sah ich, dass das Bündel in ihren Armen ihre kleine Tochter war. »Ich mache mir solche Sorgen um sie, seit der Schatten der Bettelfrau über unserem Haus gesehen wurde. Es ist so unheimlich. All die kleinen Kinder. Sie können doch nichts dafür.« Sie wiegte die schlafende Charlotte.
    Ich hatte keine Ahnung, was vor sich ging. Zauber? Was hatte ich mit dem Fluch der Bettelfrau zu tun? Was wollte Ilse davon wissen? Verwirrt trat ich näher, und als Anna von ihrem Mädchen aufblickte, sagte sie mit schroffer Stimme, »Du bist das?«
    »Ich…Ich hab sie nicht…«, stammelte ich. Es war das erste Mal, dass ich Anna seit dem unglücklichen Tag im Sommer gegenüberstand, und die Worte wollten nicht kommen. »Ich war es nicht, ich war es nicht«, war alles, was ich herausbringen konnte.
    Anna sah mich fassungslos an. »Was für ein Unsinn«, sagte sie. Doch bevor Anna sich abwenden konnte, trat Ilse auf sie zu. Sie riss ihr die Pelzkappe vom Kopf, packte ihr Haar und hielt ihre große Hand über Annas Mund. Die ließ ihr Bündel fallen, ruderte mit den Armen, doch obwohl sie sich gegen Ilse wehrte, konnte sie keinen Mucks von sich geben.
    »Was soll das?«, rief ich ängstlich »Was machst du da?«
    Ilse sagte nichts, legte beide Hände um Annas Hals und drückte zu. Ein gequälter Laut drang aus dem Mund des Mädchens. Ihre Beine gaben nach.
    »Hör auf«, schrie ich Ilse an. »Hör auf. Du bringst sie noch um.«
    »Nicht ich«, sagte Ilse.
    Charlotte weinte. Das Kind lag am Boden und fing bald zu schreien an. Als Annas Widerstand immer schwächer wurde, schlug ich auf Ilse ein und befahl ihr, Anna freizugeben. Ich zerrte an ihr und schrie auf sie ein. Schließlich ließ Ilse Anna zu Boden fallen.
    »Was hast du getan?« Ich beugte mich über Anna und ihr rotes Gesicht. Sie rang nach Luft, war aber zu schwach und zu benommen, um sich aufzurichten. Ilse stand über uns und atmete schwer.
    »Was hat sie dir getan?« Noch immer begriff ich nichts.
    Ilse schaute mich an, als ob ich von Sinnen wäre »Du hast keine Wahl.«
    »Ich habe nichts getan.«
    »Wenn du es nicht tust, wird sie zum Gut zurücklaufen und alles erzählen.«
    »Ich habe nichts getan«, schrie ich wütend »Was willst du von mir?«
    »Du bist eine Diebin und so hässlich, dass dich keiner will. Wer wird dir glauben? Du hast sie alle getötet. Das kleine Mädchen an der Droste, Martha Dinters Kind. Du hast sie umgebracht.«
    »Das war ich nicht«, schrie ich, doch als Anna sich zu meinen Füßen zu regen begann und mich voller Panik anstarrte, wusste ich, wie schlimm meine Lage war. Als ich sie darauf zu Boden drückte, wusste ich, dass ich sie nicht wieder freigeben durfte. Ilse suchte nach einem Stein.
    *
    Wie Rutgers Gesicht sich veränderte, als er sich über die leblose Gestalt beugte und sah, was Ilse getan hatte! Er war zur rechten Stunde erschienen; ich war nicht davongelaufen. Benommen und ängstlich sah ich, wie er sich aufrichtete.
    Ilse schüttelte das Kind in ihren Armen, und es fing wieder zu schreien an. Wie Rutgers Augen glänzten, wie Zorn und Raserei ihm durch den Körper fuhren. Aber er musste sich ja beherrschen und seine Wut zügeln, denn Ilse hatte seine Tochter.
    Wie lange sie sich gegenüberstanden, kann ich nicht sagen. Meine Lippen zitterten, meine Zähne klapperten, und es war nicht die Kälte der Novembernacht, die mir die Glieder lähmte. Selbst wenn ich einen klaren Gedanken hätte fassen können, hätten mich meine Beine doch nicht tragen mögen. »Was ist meine Rache wert, wenn sie niemand mit mir teilen kann«, hatte Ilse gesagt. Tränen liefen mir über das Gesicht, ich kauerte am Boden.
    Bevor Rutger Ilse irgendetwas tun konnte,

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