Hendlmord: Ein Starnberger-See-Krimi (German Edition)
wäre.
Draußen hole ich erst einmal tief Luft. «Heute müsst ihr leider mit Fischsemmeln auskommen», sage ich dann. Ein lautes Murren geht durch die Reihe. «Weil, dem Wickerl geht’s nicht gut.»
Manchmal passiert nichts bei uns. Also überhaupt nichts, da denke ich, ich bin in einer Geisterstadt oder so einem militärischen Sperrgebiet, wo ein Pfurz [1] eine Sprengung auslöst. Aber dann gibt es Tage wie heute, da geschieht so viel auf einmal, dass du glaubst, Pöcking ist die Schaltzentrale für die ganze Welt. Aber der Reihe nach. Wobei eine Reihe herzustellen gar nicht so leicht ist. Vor fünf Stunden ist nämlich auf der Wiese vor unserem Hof, der am Waldrand hoch überm Starnberger See liegt, schon mal eine Bluttat geschehen.
Zuvor steht die Emma neben unserem Bett und reißt mich aus dem Tiefschlaf mit ihrem Geheul. «Es blitzt und brennt, Papa, schnell.»
Ich rumple aus meinem Dauertraum auf, schau zum Fenster und warte kurz, bis ich in der Morgendämmerung überhaupt was erkennen kann. Von einem Gewitter ist nichts zu sehen, stattdessen höre ich nur das ferne Dröhnen von der Umgehungsstraße. «Das war bestimmt nur ein Flieger auf dem Weg nach München», will ich sie beruhigen und knipse die Nachttischlampe an.
Emma schnieft, barfuß, im Nachthemd. «Und die Oma Anni war auch wieder da.»
Meine Mama geistert zwar noch durch meine Träume, obwohl sie seit fünf Jahren das Irdische hinter sich gelassen hat, aber dass sie im Zimmer unserer Tochter herumspukt, ist mir neu. «Die Oma lebt nicht mehr», sage ich zur Emma. «Sie ist längst im Himmel, wirklich.» Ich zweifle selber ein bisschen daran, denn wenn sie droben so weitermacht wie hier unten, ist sie auf dem Weg ins Paradies bestimmt von jemandem aufgehalten worden. Meist hab ich als Bub Stunden auf mein Wurstbrot gewartet, weil sie unterwegs wen getroffen hat, von dem sie den Namen zwar nicht gleich gewusst hat, den sie aber trotzdem sofort in ein Gespräch verwickelt hat. «Sie sind doch der Herr Ding, oder?» Einkaufen war wie Urlaub für meine Mutter. Deshalb musste sie auch mehrmals am Tag ins Dorf. Und obwohl sie zu Hause auf unserem Kanapee gestorben ist, stelle ich mir ihre Himmelsauffahrt immer in der Dorfmitte an dem steilen Berg vor. Da, wo rechts die Metzgerei, der Bäcker und die Sparkasse sind und links der Bioladen, die Apotheke, Michaelas Haarstüberl und so ein Kleidergeschäft, in dem ich aber noch nie drin war, deshalb fällt mir der Name jetzt auch nicht ein.
«Die Oma war aber da.» Emma stampft mit dem Fuß auf. Kohl, das Stoffschaf, das sie überallhin mitschleppt, rutscht ihr aus dem Arm. Sie hat es Kohl genannt, weil ich ihr mal erklärt habe, dass du Schafe, wie Babys auch, nicht mit Kohl füttern sollst. Bauchwehgefahr, der Name als Warnung.
Ich fang Kohl auf und ziehe Emma am Arm her. «Na gut, dann leg dich zu uns rein.» Das lässt sie sich nicht zweimal sagen. Sie hüpft ins Doppelbett, kriecht unter die Decke, aus der das nächtliche Betäubungsgas, ein Bohnen-Zwiebel-Gemisch, aufsteigt, und schläft, noch bevor sie die Matratze berührt. Als ich die Lampe ausschalte, höre ich die Haustür unten, ein leises Klicken, und dann das Knarzen der Treppenstufen. Kein Wunder, dass Emma Gespenster sieht. Unser Sohn Emil schleicht sich herauf und verschwindet mit einem leisen Türquietschen in seinem Zimmer. Wo treibt sich der Bub bloß die ganze Nacht herum? Ich werde ihn mir später, vielleicht, ganz bestimmt, mal vorknöpfen.
Wie hätte mein Vater das gelöst, wenn ich damals, wie Emil jetzt, mit fünfzehn die ganze Nacht weggeblieben wäre? Ich wälze mich erst auf die eine, dann auf die andere Seite.
Bei meinen großen Brüdern jedenfalls, wenn die was angestellt hatten und meine Mutter eine Bestrafung verlangte, hat er nur «Ja mei» gesagt. «Da kannst du nichts machen, so sind sie halt, die Buben.» Dann hat er mit den Schultern gezuckt und den Flaschenöffner herabgezogen, der bei uns an einer Schnur von der Küchenlampe baumelte. Kaum denke ich an meinen Vater, taucht das Blinken in meinem Hirn auf, egal, wie fest ich die Augen zusammenpresse. Seit Jahren geht das so, ich kann’s nicht abstellen. Mal stärker, mal schwächer, sehe ich es überall, als hätte jemand eine Warnleuchte in mein Hirn geschraubt. Ich versuche mich mit anderen Sachen abzulenken, zu tun gibt es genug. Abgesehen von den Leuten im Dorf, denen ich ständig bei irgendwas helfen muss, steht auch bei uns einiges an.
Schafe scheren.
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