Hendrikje, Voruebergehend Erschossen
Hendrikje, wenn Sie so halbherzig waren, Paula im Atelier unterzubringen, wo das arme, gerade verlassene Mädchen nicht einmal die Reste eines Gänsebratens zu essen hatte, dann müssen Sie sich nicht wundern, wenn Sie der liebe Gott persönlich bestraft, zumal es ja noch der Heilige Abend war.‹ Sie wollen den Nachweis von mir, dass Sie ein schlechter Mensch sind, denn nur ein schlechter Mensch, so glauben Sie, hat Ihr Schicksal verdient.«
Hendrikje schweigt eine Weile und zwingt sich, nicht zu heulen. »Sie widersprechen sich ja die ganze Zeit«, sagt sie trotzig, »eben haben Sie doch selbst gesagt, dass ich halbherzig war.«
»Hendrikje, was hätten Sie wohl davon, wenn ich Ihnen Folgendes sagte: Es war weder gut noch böse, Paula im Atelier schlafen zu lassen, es war einfach nur dämlich. Unüberlegt, unkonzentriert, unverantwortlich, überhaupt nicht nachgedacht, überhaupt nicht einen Moment lang überlegt, Paula Geld für die Jugendherberge zu schenken, wo Sie doch glaubten, ab März ein reiches Mädchen zu sein?!« Doktor Palmenberg sieht Hendrikje herausfordernd an.
»Wenn das die Wahrheit ist, dann sagen Sie das ruhig. Ich will die Wahrheit wissen«, sagt Hendrikje ruhig.
»Was denn für eine
Wahrheit
?«, zischt die Palmenberg gereizt.
»Die Wahrheit über mich. Warum mir das alles passiert und warum ich eineinhalb Menschen umgebracht habe.«
»Meine Aufgabe ist nur, Ihnen dabei zu helfen, dass Sie selbst herausfinden, was Sie für die ›Wahrheit‹ halten. Ich stelle hier lediglich die Fragen. Haben Sie übrigens herausgefunden, ob Paula etwas passiert war?«
»Oh ja«, sagt Hendrikje beleidigt. »Paula ist quietschlebendig und rennt da draußen irgendwo rum. In Freiheit.«
Und dann steht Hendrikje einfach auf und geht raus.
4
Nächste Sitzung. Die Palmenberg liegt hingegossen auf ihrer Fernsehliege, Nägel lackiert, diesmal in einem cremefarbenen Hosenanzug. Ihre braunen Wellen hat sie hochgesteckt. Hier und da fällt mal eine Strähne sanft auf die Schultern, und die ganze Frisur betont den schön geschwungenen Hinterkopf der Ärztin.
Eine Unverschämtheit. Als Hendrikje früher noch lange Haare hatte und sich Hochsteckfrisuren machte, sah sie aus wie ’ne Straßenbahnschaffnerin im Hallenbad. Sie ist also wenig amüsiert und schaut Doktor Palmenberg feindselig an, aber die lächelt wie immer: aufmunternd und gelassen. »Nun«, fragt die Palmenberg, »wollen wir einfach weitermachen?«
Hendrikje nickt tonlos und schweigt.
»Erzählen Sie mir einfach, wie es weiterging. Am ersten Weihnachtsfeiertag haben Sie festgestellt, dass Ihr Atelier abgebrannt war. Was haben Sie getan?«
»Ich wollte wissen, was aus Paula geworden war, ob ihr etwas passiert war bei dem Brand oder ob sie vielleicht sogar für den Brand verantwortlich war. Ich hab mich auf mein schönes rotes Rennrad gesetzt und bin die Straßen abgefahren, in denen ich Paula normalerweise immer getroffen habe, aber nichts. Kein Mensch weit und breit, alles leer gefegt. Die Menschen saßen alle zu Hause und feierten Weihnachten, und wo Paula steckte, das wusste der Himmel. Aber je mehr ich nach ihr suchte, umso mehr wuchs in mir die Gewissheit, dass dieses kleine Biest sich einfach nur gut vor mir versteckte und irgendwo ganz unversehrt im Warmen saß. Ernst war im Skiurlaub und die Omi in der Kühllade des Bestatters, und ich wusste nicht, wohin mit mir.
Ich hab versucht, meine Freundin Lisa in Schleswig-Holstein anzurufen, aber da meldete sich keiner. Da bin ich auf gut Glück zu ihrem Loft gefahren, obwohl ich eigentlich nicht glaubte, sie Weihnachten auf einer Baustelle anzutreffen. Aber … aber sie war doch da. Sie hat mich nicht gesehen, und ich hab mich dann auch gleich wieder weggeschlichen. Also, sie … Wissen Sie, das Loft hatte noch keine richtige Tür, die musste erst noch eingebaut werden, es gab nur so eine provisorische Holzlattentür, und durch die Ritzen konnte ich sehen, wie sie und Dieter, also, wie sie …« »Wie Lisa und Dieter sich liebten.«
»Ja, nein, es war nicht so eindeutig. Lisa versuchte, Dieter zu verführen, und ich fand das … Also Lisa hatte sich in ein schwarzes Lederkostüm gezwängt, so was hatte ich an ihr noch nie gesehen, sie sah fast aus wie eine Domina, mit hohen Stiefeln und so, und so stand sie vor Dieter, der an der Wand lehnte, und sie streichelte ihn und redete auf ihn ein, ob er seine Freiheit nicht ein bisschen genießen wolle und
ihre
Freiheit nicht ein bisschen versüßen, und
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