Hendrikje, Voruebergehend Erschossen
neu, und dann gelingt es und weiß Gott, die Omi dreht sich im Grab rum.
Und in der Nacht liegt Bruno im Schlafzimmer und liest noch ein bisschen in einem seiner staubigen Bücher und horcht, ob nicht irgendwann vielleicht doch ein Geräusch aus dem Flur kommt, ob da nicht vielleicht doch irgendwann ein leichtes barfüßiges Fußtapsen kommt, um in einem seiner Schlafanzüge in der Tür zu stehen und um Einlass zu bitten. Aber nee, passiert irgendwie nicht. Kein Tapsen, kein Laut ist zu hören. Sei’s drum, denkt Bruno und liest noch ein Kapitelchen Adorno. Und dann schläft er ein, und als er am Morgen von einem leise kratzenden Geräusch aufwacht, da sitzt Hendrikje in einem seiner Schlafanzüge lächelnd auf einem Stuhl neben dem Bett und hat den Schläfer gezeichnet.
Und Bruno steht auf und macht Frühstück, und Hendrikje zieht sich an und geht los, um die Zeitung zu kaufen, denn Bruno hat kein Abonnement. Und beim Frühstück teilen sie sich die Zeitung, Sport und Politik für den Herrn, Feuilleton und Kolumne für die Dame.
»Jetzt hör dir das mal an«, sagt Hendrikje und liest Bruno die heutige Sugar-Brown-Kolumne vor.
Was essen Sie lieber am Heiligen Abend? Karpfen mit Püree und Feldsalat, Bockwürstchen mit Kartoffelsalat oder die klassische Gans? Das ist eine einfache Frage, ich weiß. Natürlich wird kein Mensch nach einem hart durchgearbeiteten Jahr und den sich anschließenden anstrengenden Weihnachtseinkäufen freiwillig Fisch essen, der so leicht bekömmlich ist, dass man eine Stunde nach dem Abendessen schon wieder Hunger hat. Wir leben ja nicht am Mittelmeer, denn dort wär’s was anderes.
Wie überhaupt ein Mensch auf die Idee kam, am Heiligen Abend seine Lieben mit Bockwürstchen zu vertrösten, ist und bleibt für mich das letzte Geheimnis der Menschheit und fällt eigentlich in den Bereich von
UN O-Investigationen
.
In unseren Breitengraden ist nur eines vernünftig: am Heiligen Abend eine Gans zu essen. Das Wetter ist danach. Bei nasser Kälte empfiehlt sich ein Essen, das den Körper aufheizt, und zwar nachhaltig und nicht nur spontan. Wenn Sie also beispielsweise um acht Uhr abends essen und um zehn Uhr immer noch unter Hitzewellen leiden, dann ist es richtig. Das Essen sollte schwer sein. Man sollte Klöße zur Gans essen.
Sie werden selber wissen, wie Sie Ihre Gans zubereiten, Sie werden wahrscheinlich keine Tipps von mir brauchen, aber ich kann ja erzählen, dass ich meine Gans nur pfeffere, salze und kräuterderprovenze und dann in einen großen Bräter lege. Den Boden 4 Zentimeter mit Wasser aufgefüllt und ordentlich Suppengemüse hinein – ein Schelm, wer’s klein schneidet. Während zwei bis zweieinhalb Stunden Garzeit bei 225 Grad wird die Gans mit diesem Sud übergossen, in den langsam das eigene Gänsefett hineinläuft … das alles ist ja gar nicht neu.
Neu ist: die Suppe. So eine Gans wirft ja ohne Ende Suppe ab, wenn man nur will und weiß wie’s geht. Ich löse meiner Gans vor dem Braten die Flügel vorsichtig heraus und nähe das Loch in der Haut am Körper der Gans wieder zu, es ist eine richtige kleine Operation.
Die herausgetrennten Flügel lege ich in den Sud zum Suppengemüse und erhalte auf diese Weise eine fette Gänsebrühe, die keineswegs nur in die Soße marschiert …! Ich schöpfe ein Töpfchen Sud ab und muss es sogar mit Wasser verdünnen. Dann besorge ich mir oder mache selber: Pilzmaultaschen, die ich in 8 Millimeter breite Streifen schneide und in die Suppe gebe, die ich wieder nur mit Pfeffer und Salz und einem Hauch Maggi (oh, ja!) abschmecke. Massenweise Petersilienschnee drüber. Fertig. Wer Hühnersuppe liebt, wird verrückt sein nach Gänsesuppe.
Aus der anderen Hälfte des Suds mache ich die Soße, mit Mondamin (womit auch sonst?), Lorbeerblättern, Kardamom, Pfeffer und Rotwein. Aber Obacht: Nicht zu dünn werden lassen! Nur eine schwere Soße ist eine gute Soße.
Erst gibt es die Suppe und dazu ein Bier, dann die Gans mit Klößen und Soße zu einem schönen Glas Rotwein und einen Nachschlag mit ein paar Schnäpsen.
Der Effekt ist:
riscaldando
und
ritardando
. Und aus beidem entsteht erst das, was der Weihnachtskenner unter Besinnlichkeit versteht: Alle Körperfunktionen verlangsamen sich extrem, der Kopf ist so schwer wie der Bauch und es ist gemütlich warm. So lässt sich in Frieden das alte Jahr zum Teufel schicken und man erwirbt sich auf diese Weise Nerven für ein neues.
Fröhliche Weihnachten, lieber Leser,
Ihr
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