Hendrikje, vorübergehend erschossen
hier.‹
Dann gehen sie bald schlafen, nur, dass Hendrikje nicht einschlafen kann, weil sie plötzlich an Bruno denken muss, der ihr
ja eigentlich das Leben gerettet hat, und sie merkt, dass ihr das immer noch sehr peinlich ist und dass sie sich mal in aller
Form für ihre Gemeinheiten im Café entschuldigen und auch noch mal bedanken muss. Seine Adresse weiß sie ja. Sie hat auch
Schreibzeug auf Stube, und also macht sie Licht an und setzt sich auf im Bett, als sich auch schon Gudrun beschwert, dass
sie bei Licht aber nicht schlafen kann, und da sagt Hendrikje ihr: ›Das muss jetzt aber sein.‹ Und Gudrun stöhnt genervt und
zieht sich die Bettdecke über den Kopf.
Lieber Bruno
, schreibt Hendrikje,
ich weiß gar nicht, was aus Dir geworden ist. Gehst Du immer
noch ins Café? Es ist irgendwie sehr schade, dass ich
Dir dort keinen Espresso mehr machen kann, denn ich sitze
mittlerweile im Gefängnis, weil ich meinen ehemaligen
Nicht-Freund minderschwer totgeschlagen habe, nachdem
ich bei Dir wieder weg bin, aber eigentlich war es Notwehr.
Ich weiß noch, dass Du damals, als ich von Dir wieder weg
bin, nachdem Du mich gesund gepflegt hattest, noch von
mir wissen wolltest, wo ich hinwollte und warum ich wegwollte.
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Ich wusste das damals auch nicht. Aber heute glaube
ich, dass ich von Dir weg bin, um mich noch mal gegen
Ernst notzuwehren, naja.
Jedenfalls. Ich möchte mich bei Dir entschuldigen, weil
ich immer so gemein zu Dir war. Als ich Dich zum Beispiel
fragte, ob Du schon mal im Zoo warst und ob Du ausgebrochen
wärst, weil man Dich schlecht gefüttert hat, da
habe ich das eigentlich nur gesagt, weil ich das mal im Kino
gesehen hab, in dem Film »Die Sonne, die uns täuscht« von
Nikita Michalkov, da fragt das ein kleines Mädchen die
grimmigen stalinistischen Beamten, die seinen Vater zur Erschießung
abholen, und damals im Kino war das ein Riesenlacher
im Publikum, und ich wollte einfach auch mal
diesen Satz sagen, aber Du bist ja schließlich kein Stalinbeamter
. Und wenn an Deinem Platz im Café irgendjemand
anders gesessen hätte, dann hätte ich das auch zu irgendjemand
anderem gesagt. Ich habe immer noch Deine Sachen
an, die Du mir damals gegeben hast, und also tut es mir natürlich
extrem leid, dass ich gesagt habe, Deine Klamotten
wären eine optische Unverschämtheit, denn in der wohne
ich ja nun.
Und dafür, dass ich so gemein war zu Dir, hast Du mich
dann an meinem schwärzesten Tag vom Hauptbahnhof aufgelesen
und mich gesund gepflegt und sogar einen Arzt
kommen lassen und das hat ja wahrscheinlich auch Geld
gekostet. Und Du kannst ja echt toll kochen. Na ja, jedenfalls
danke. Ich hoffe, Du bist mir nicht mehr böse. Wenn
Du mir nicht mehr böse wärst, wär’s gut für meinen Seelenfrieden
.
Als ich von Dir weg bin, habe ich ein paar Tage lang in
einem Abbruchhaus gelebt, ungefähr in der Mitte der Friedensallee
, Ecke Planckstraße. Es liegt dort hoffentlich immer
noch in einem Zimmer im ersten Stock das Schmuckkästchen,
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das meine Großmutter 1945 vor den Russen gerettet
hat. Ich würde Dich deswegen gern um etwas bitten.
Kannst Du mal hingehen und gucken, ob es noch da ist?
Und wenn es noch da ist, könntest Du es bitte für mich retten
? Weißt Du, ich kann Dich mittlerweile echt gern leiden,
aber ich will auch ehrlich zu Dir sein, denn wenn ich Dich
mittlerweile nicht gern leiden könnte, dann würde ich Dich
das auch bitten. Aber deswegen sage ich es ja auch extra:
Ich bitte Dich das, weil ich dich echt gern leiden kann mittlerweile
. Meine Großmutter hat sehr an dem Schmuckkästchen
gehangen, und ich an ihr. Also.
Viele Grüße aus Fuhlsbüttel,
Deine Hendrikje Schmidt
Als sie Frau Doktor Palmenberg den Brief vorliest und sie fragt, ob sie den so losschicken kann, gibt die Palmenberg ihr grünes
Licht und sagt, dass sie den Brief auf jeden Fall so abschicken könnte, fragt dann aber doch noch, warum sie so offiziell
und Distanz schaffend mit ihrem vollen Namen, mit
Hendrikje Schmidt
unterschrieben habe und nicht einfach mit
Hendrikje
.
Und Hendrikje erklärt es ihr: Sie kann ja schließlich nicht wissen, wie viele andere Hendrikjes Bruno noch kennt, und die
Palmenberg stöhnt leise auf und sagt ohne große Überzeugung: ›Das leuchtet ein.‹
Es dauert sechs Wochen, bis eine Postkarte von Bruno als Antwort kommt. Auf der Vorderseite ist eine Fotografie des Hamburger
Hafens, von den Landungsbrücken aus fotografiert. Auf der Rückseite
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