Hendrikje, vorübergehend erschossen
Ernst
mich
verlassen hat, und zwar
wegen
Sophie, und dass es Quadratquatsch ist, dass Ernst als werdender Vater von ganz allein vom Dach gefallen wär, sondern dass
ich ihn im Gegenteil geschubst habe. Mit Absicht. Und dass ich das wieder tun würde, wenn er mir wieder da oben sagen würde,
dass es ihm egal wär, ob ich springe oder nicht, und dass aus mir sowieso nichts mehr werden würde, nicht als Frau und nicht
als Malerin, und dass man mit meinem Namen nicht mal Liebe machen kann.
Und dass Lisa und Sophie kein Wort davon mitgekriegt haben, weil sie überhaupt nicht im Dachbodenfenster standen und zuhörten,
sondern unten im Treppenhaus gewartet haben und deshalb auch ganz schnell – und zwar vor meinen Augen – bei der Leiche unten
im Hof sein konnten. Und dass ich Ernst zwar geschubst habe, aber aus Notwehr. Und dass Ernst zwar keine Bewegung gemacht
hat, die mich zu |153| der Annahme verleiten hätte können, dass er mich schubsen wollte, aber ich wusste, dass er mich schubsen
würde
, es war ehrlich nur noch eine Frage von Minuten oder weniger. Denn dass er überhaupt auf das Dach zu mir geklettert kam,
hatte ja nichts anderes zu bedeuten gehabt, als dass er mich hatte schubsen
wollen
, Ernst tat nämlich nichts, also wirklich gar nichts, ohne vorher Ursache und Wirkung und das daraus zu schlagende Kapital
berechnet zu haben!
Der Richter wollte jetzt von mir wissen, welcher Art denn das daraus zu schlagende Kapital hätte sein können, wenn ich vom
Dach gesprungen wäre. Und ich sagte ihm: ›Na, meine Wohnung! Ich hatte ihm doch als werdendem Vater meine Wohnung versprochen,
und die Renovierung lief ja bereits. Er hatte ja die Handwerker ins Haus geholt, ehe ich überhaupt tot war!‹
›Mit denen sie dann erst mal geschlafen hat!‹, traute Lisa sich, ohne gefragt zu sein, einzuwerfen, und da hat es mir aber
gereicht und ich habe mich zu Lisa umgedreht und gesagt: ›Nee, Lisa,
das
war gelogen.
Geschlafen
habe ich mit Dieter!‹ Und da wurde sie bleich und hielt ihre Klappe.
Hier erst erfuhr der Richter davon, dass Ernst zur Belohnung für seine Hilfe bei meinem Selbstmord die Wohnung bekommen sollte,
und sagte ›Ahaa …!‹
Ich erzählte, dass wir sogar einen Untermietvertrag getürkt hatten, so dass der Vermieter denken sollte, dass Ernst schon
seit zwei Jahren bei mir und meiner Omi zur Untermiete gewohnt hätte und er ihn also nicht so ohne weiteres hätte rausschmeißen
können. Und dass ich sogar einen juristisch einwandfreien Abschiedsbrief geschrieben hatte, um meine Freunde nicht zu belasten,
und dass es Lisa war, die darauf besonderen Wert gelegt hatte, dass ich aber diesen Abschiedsbrief nicht mehr hätte, dass
ich den verbrannt hatte, nachdem ich von der Lungenentzündung genesen war.
|154| Der Richter sagte, dass ein Abschiedsbrief in diesem Fall sowieso kein Beweis wäre, denn den hätte ich ja sonst wann geschrieben
haben können. Aber der Untermietvertrag wär interessant, und wo der denn steckte. Daraufhin wurde die Verhandlung vertagt
und es wurde Ernsts Wohnung durchsucht. Man fand diesen Untermietvertrag und besah daraufhin noch mal meine Wohnung. In der
Zwischenzeit waren Küche und Bad wohl komplett neu gemacht worden. Neu gekachelt, neue sanitäre Anlagen, Einbauschränke. Aber
da der Bauherr nicht wieder aufgekreuzt war, waren alle anderen Arbeiten gestoppt worden und alle fünf Zimmer waren noch so,
wie die Omi und ich in ihnen gewohnt hatten. Omis Schlafzimmer, ihr Wohnzimmer, ihr winziges Nähzimmer und das Esszimmer waren
mit ihren Möbeln, ihren Häkeldeckchen und ihren Porzellanballerinas vollgestopft, und mein Schlafzimmer mit den blau gefärbten
Moskitonetzen überm Bett und den Putten, die ich an die Wand gemalt hatte, war klar erkennbar als mein Zimmer und niemand
glaubte, dass hier irgendwo dazwischen noch zwei Jahre lang ein junger Mann zur Untermiete gewohnt haben sollte. Das war ein
wichtiges Indiz dafür, dass der von Ernst so bedacht ausgefüllte
Hamburger Untermietvertrag
tatsächlich vordatiert worden war. So glaubte der Richter mir, dass dieser Untermietvertrag am Tag meines geplanten Selbstmordes,
also an Holgers Todestag, entstanden war, und das gab ihm zu denken.
›Frau Schmidt‹, sagte der Richter zu mir. ›Wenn Ihre Version richtig ist, warum, glauben Sie, entlasten Ihre Freunde Sie so
entschieden? Wenn Sie, wie Sie sagen, Ernst vom Dach geschubst haben, müsste Ihre Freundin Lisa, die mir als
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