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Hendrikje, vorübergehend erschossen

Titel: Hendrikje, vorübergehend erschossen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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nicht drinstecken in meiner Psyche.
    Jedenfalls wäre Ernst dann zu mir aufs Dach geklettert und hätte mit Engelszungen auf mich eingeredet, dass ich da wieder
     runterkommen und bloß nicht springen sollte. Und als der Richter Lisa fragte, wieso sie dieses Gespräch so gut gehört hätte,
     da antwortete Lisa ihm, sie hätte die ganze Zeit über gemeinsam mit Sophie auf dem Dachboden gestanden, direkt am Fenster,
     und alles mit angesehen. Und dass sie, als dann später die Feuerwehr kam, um den totgestürzten Ernst einzusammeln, zwar der
     Polizei gesagt hätte, ich hätte Ernst geschubst, aber das sei doch nur
symbolisch
gemeint gewesen.
    Da wollte der Richter natürlich wissen, was denn nun das Symbolhafte an dieser Äußerung gewesen wäre, und Lisa guckte ihm
     ins Gesicht, klar und ruhig und ohne rot zu werden guckte sie ihm ins Gesicht und erklärte, sie hätte damit gemeint, dass
     es meine verirrte Psyche war, die Ernst vom Dach geschubst hätte. Und natürlich die Tatsache, dass ich Ernst im Dezember verlassen
     hätte. Das hätte ihm unendlich wehgetan. Er hätte sich zwar mit Sophie im Skiurlaub ein bisschen getröstet – da schluchzte
     Sophie laut und markerschütternd auf –, aber nur weil Sophie in eben diesem Skiurlaub schwanger geworden wäre, sagte Lisa
     weiter, hätte er als ein Mann, der sich selbstverständlich seiner Verantwortung stellt, sofort eine Heirat geplant, zu der
     es dann leider nicht mehr gekommen wär. Sie aber, Lisa, wüsste, dass er gar nicht besonders gern Vater geworden wäre und wirklich
     nur aus Verantwortungsgefühl heraus Sophie einen Heiratsantrag |151| gemacht hatte, und da brach Sophie zusammen und musste rausgetragen werden.
    Außerdem hätte Ernst ja nicht nur mich, sondern auch in Holger seinen allerbesten Freund verloren, also drei Schicksalsschläge
     auf einmal, und das hätte ihn alles sehr durcheinander gebracht. Sie hätte jedenfalls mit Sophie am Dachfenster gestanden
     und von dort den ganzen Dialog verfolgt, in dem Ernst mich vom Dach herunterquatschen wollte, um mich zu retten. Am Ende hätte
     er sich so echauffiert, dass er das Gleichgewicht verloren hätte und gefallen wär. Von allein, ohne jedes Zutun. Sie hätte
     jedenfalls nicht gesehen, dass ich ihn geschubst hätte. Ich wäre auch viel zu weit weg von ihm gewesen, um ihn zu erreichen.
     Als Ernst dann gefallen war, wäre sie gemeinsam mit Sophie nach unten gerannt, dann hätten sie den toten Ernst im Hof gefunden
     und über Handy die Feuerwehr angerufen.
    Der Richter saß wie in Erz gegossen.
    Im ganzen Saal war es still, als Lisa geendigt hatte, und ich verstand die Welt nicht mehr. Wieso entlastete mich Lisa, wo
     sie mich doch mit Fug und Recht hätte belasten können? Und würde irgendein Mensch ihre Fassung glauben? Ich war einigermaßen
     verzweifelt über Lisas Rede und hatte einen ganz trockenen Mund, weil ich während ihrer Ausführungen immer nach Luft schnappte
     und sie unterbrechen wollte. Aber jedesmal gab mir der Richter, der das merkte, ein ehrfurchtgebietendes Zeichen mit der Hand
     und gebot mir auf diese Weise zu schweigen. Und weil er eh schon aussah wie sein eigenes Standbild, hab ich lieber gehorcht.
    Er schwieg lange und forderte Lisa dann auf, zurückzugehen zu ihrem Platz. Und das tat sie. Sie verließ den Zeugenstand ganz
     majestätisch, muss man sagen, mit bescheidener, dem Anlass angemessener Majestät.
    Der Richter ließ sich Zeit, der kostete das richtig aus, die |152| Stille im Saal und dass ich vor den Leuten dastand wie eine Psychopathin. Dann fragte er mich, ob ich noch irgendwas zu sagen
     hätte, ich hätte das letzte Wort. Und ich hab gesagt: ›Ich könnte kotzen.‹
    Ich habe ihm erklärt, dass das Quatsch ist, dass Holger sich umgebracht hätte, dass es so gewesen war, wie ich es bereits
     gesagt hatte, dass Ernst das Gift mitgebracht hat, weil
ich
mich im Kreis meiner Freunde umbringen wollte, wie wir das an meinem Geburtstag ‘ne Woche vorher verabredet hatten. Und dass
     Holger immer schon, da, wo andere Leute
ein
Eis essen,
zwei
Eis gegessen hat und dass er deshalb das vergiftete Sorbet gegessen hat. Und dass es Quatsch ist, dass man Holger wegen emotionaler
     Überforderung in die Gefrierkühltruhe gelegt hat und auch nicht um eine Straftat zu vertuschen, sondern wegen seiner Nieren,
     damit die frisch bleiben, weil Sophies Vater eine braucht. Und dass es Quatsch ist, dass ich Ernst verlassen habe, sondern
     dass im Gegenteil

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