Hendrikje, vorübergehend erschossen
steht:
Picasso! Das Schmuckkästchen habe ich nicht finden können
, aber in einem der Räume hing ein Bild von einem Arm
|161|
mit einem tätowierten Segelschiff mit der Aufschrift ›True
Love‹. Hast Du das gemalt? Soll ich das retten? B.
P. S.: Hat das Mädchen gewusst, dass die Stalinisten seinen
Vater erschießen würden?
Hendrikje zeigt der Palmenberg die Postkarte von Bruno: »Das Schmuckkästchen ist hin.«
»Hendrikje, das ist ein relativ kleiner Preis für das, was Sie gewonnen haben.«
»Ja, aber was sind das für Zeiten, wo ein Schmuckkästchen den Zweiten Weltkrieg übersteht, aber in der Friedensallee abhanden
kommt …?«
»Darüber sollten Sie mal meditieren.«
»Ja, und wieso nennt Bruno mich Picasso? So hat nur Goebbels mich genannt, wenn sie mich ärgern wollte, also wenn sie mir
klar machen wollte, dass ich eben nicht Picasso bin …?«
»Nun, Bruno hat diesen Spitznamen im Café am Tresen aufgeschnappt und erinnert Sie auf diese Weise an die dort gemeinsam verbrachte
Zeit«, seufzt die Palmenberg.
»Ja, aber wieso schreibt Bruno hier von
einem
Bild mit
einem
Arm und
einem
Segelschiff, ich hatte doch
zwei
Arme und
zwei
Segelschiffe gemalt!?«
»Nun, wahrscheinlich ist Paula, die vor Ihnen, Ernst, Sophie und Lisa weggerannt war, noch einmal zurückgekommen und hat eins
der beiden Bilder mitgenommen, als sie weiterzog. Sie sagten doch, dass Dieter
auch ihr
sein Segelschiff geschenkt hatte.«
»Ja, aber es kann doch nicht einfach jede Frau, der Dieter sein Segelschiff schenkt, meine Bilder klauen!«
»Hendrikje«, sagt die Palmenberg sehr ermüdet und mit schweren Lidern, die ihr langsam zufallen, »Ihre Empörung beruhigt mich
sehr. Das ist ja endlich mal ein Anfang.«
|162| Zurück auf Stube antwortet Hendrikje Bruno:
Lieber Bruno, ja, mach das bitte! Rette das Segelschiff!
Deine Hendrikje
PS: Nein, das wusste das Mädchen natürlich nicht, es war
noch ein kleines Mädchen.
Und als eine Woche später Bruno schreibt:
Ahoi! Die ›True Love‹ ist gerettet! B.
da fragt Hendrikje an:
Lieber Bruno, könntest Du sie vorbeibringen? Picasso
Und so wird ein Antrag auf Genehmigung von Besuch einer nichtverwandtschaftlichen Person gestellt. Und als der bewilligt ist,
besucht Bruno Hendrikje in der Frauenvollzugsanstalt.
Hendrikje hat ihre eigenen Sachen an, eine Jeans, die passt, einen Pulli, der passt, und Schuhe, die passen. Sie merkt, als
sie zum von der Gefängnisleitung bestimmten Termin runter in den Besucherraum geht, dass sie schweißnasse Hände vor Aufregung
hat. Und dass sie sich auf Bruno freut. Und sie denkt: Hendrikje, jetzt halt bloß den Ball flach. Es ist bloß der doofe Bruno,
vergiss das nicht.
Sie schaut sich um in dem weiträumigen Besuchersaal, in dem an Einzeltischen Frauen sitzen, die Besuch von Männern und Kindern
haben, und Männer, die allein an Tischen sitzen und noch auf ihre Frauen warten. Sie sieht keinen Bruno. Es ist ja auch schon
wieder Februar, es ist ein Jahr her, dass sie Bruno zuletzt gesehen hat. Andererseits hat Bruno sich in all den Jahren, in
denen er bei ihr am Tresen |163| hockte, nie verändert, warum also sollte er sich jetzt bis zur Unkenntlichkeit … nee. Er ist nicht gekommen. Natürlich kommt
er nicht um ein Segelschiff in den Knast zu bringen, der fühlt sich verarscht. Oder es ist ihm was dazwischengekommen, also
die Aufseherin fragen gehen, ob er angerufen hat. Hendrikje geht zur Aufseherin und fragt, ob ihr Besuch vielleicht abgesagt
hat. Die aber schüttelt freundlich den Kopf und schaut auf ihrer Liste nach und zeigt Hendrikje den Mann im schwarzen Anzug,
der rauchend am anderen Ende des Saals am Fenster sitzt. Heilige Scheiße! Bruno ist schon da und sie trödelt hier mit der
Aufseherin rum!
Hendrikje geht hin zu dem Tisch, an dem Bruno sitzt und raucht. Sie sieht ihn an: Er sieht wirklich anders aus. Die dicke
Brille ist weg, er hat eine ganz normale Brille im Gesicht und er hat sich seinen Bart gestutzt, also er hat immer noch einen
Vollbart, aber einen kurzen. Und er hat einen Anzug an, einen schwarzen, wie ein Konfirmand.
Hendrikje steht am Tisch und die beiden sehen sich an. Bruno steht nicht auf. Hendrikje setzt sich zu ihm an den Tisch, ihm
gegenüber, und die beiden sagen sich Guten Tag und lächeln sich zu, und er schiebt ihr die zusammengerollte Leinwand über
den Tisch.
»Danke«, sagt Hendrikje und dann schweigen die beiden eine geraume,
Weitere Kostenlose Bücher