Henker-Beichte
schauen, eingesteckt. Er wußte nur, daß der Abbé nicht in Paris lebte, sondern sogar ziemlich weit von dieser Metropole entfernt.
Das war Cresson egal, er mußte nach jedem Strohhalm greifen, der sich ihm bot.
Er stützte sich für einen Moment mit beiden Händen auf dem Tisch ab und schnellte förmlich in die Höhe. Innerhalb von Sekunden war der Henker zu einer anderen Person geworden. Er spürte wieder so etwas wie die alte Spannkraft seiner Jugend, die ihn jetzt durchwehte. Er sah wieder Land, hatte eine Zukunft vor sich.
Dem unheimlichen Spuk mußte ein Ende bereitet werden. Wenn er es nicht schaffte, dann eben ein Helfer. Damals schon hatte er es gespürt, war aber noch so arrogant gewesen, um darüber hinwegzugehen.
Die Adresse des Abbés. Verflixt noch mal, ich habe sie doch eingesteckt!
Dachte Cresson. Aber wo liegt der Zettel jetzt? Angestrengt schaute er sich im Zimmer um. Es gab einen Platz, wo er seine privaten Dinge aufbewahrte. Nicht hier, sondern im Nebenraum, wo es ein Versteck gab.
Tief holte der Henker Luft. Seine Schritte waren wesentlich forscher und wuchtiger als noch vor wenigen Minuten. In einem ziemlich klapprigen Hängeschrank stand das alte, ovale Porzellangefäß, das er auf einem Hohmarkt erstanden hatte. Früher hatten die Menschen darin Heringe oder andere Fische eingelegt. Er hatte es zweckentfremdet und bewahrte dort seine wenigen Unterlagen auf.
Cresson holte das Gefäß hervor. Er öffnete den Deckel und starrte auf das Durcheinander. Zettel und Visitenkarten rutschten durch seine Finger, er schleuderte sie weg, und je mehr Zeit verging, um so nervöser wurde er.
Hatte er den Zettel mit der Anschrift verloren? Nein, er war da.
Natürlich fand er ihn ganz unten. Wie hätte es auch anders sein sollen, nach einer derartig langen Zeit? Inzwischen waren einige Karten hinzugekommen.
Er schaute nach, als er das Blatt Papier auseinandergefaltet hatte. Er hielt es an beiden Enden mit leicht zitternden Fingern fest und las den Text halblaut vor.
»Alet-les-Bains…«
Ja, das war es. Alet-les-Bains. Im Süden des Landes gelegen. In den nördlichen Ausläufern der Pyrenäen.
Sogar eine Telefonnummer war notiert. Cresson lächelte, als er mit dem Zettel in der Hand wieder zurück in das andere Zimmer ging, wo er sich in den alten und schon ausgesessenen Sessel fallen ließ. Die Notiz behielt er in der Hand. Das Telefon stellte er sich auf die Oberschenkel, drückte sich so weit zurück wie möglich, schloß die Augen – ja, die Zeit nahm er sich, denn er wollte die Vergangenheit zurückholen.
Wie war das denn noch vor ungefähr einem Jahr, als ihm der Abbé begegnet war?
Hier in Paris und auch in diesem Viertel. Damals hatten die Bäume schon das erste Grün getragen. Ostern war früher gewesen, das schöne Wetter hatte die Menschen aus ihren Häusern gelockt.
Auch ihn…
***
Cressons Erinnerungen Wenn viele Menschen den Kanal Saint-Martin als ein Kleinod bezeichneten, so wollte jemand wie Cresson nicht so recht daran glauben. Für ihn war es eine Grenze, die er nur überschritt, wenn es sein mußte, denn er fühlte sich in diesem nordöstlichen Teil von Paris wohl, obgleich die Zeiten auch nicht ruhig waren und in den letzten Monaten die Anzeichen für eine vermehrte Bandentätigkeit zunahmen.
Junge Banden, die sich Apachen nannten. So hießen vor dem Krieg auch die schweren Jungs, die sich im Osten und Norden von Paris ausgebreitet hatten. Zuhälter, Gauner, Diebe, Hehler und andere lichtscheue Gestalten, die allerdings eines gemeinsam hatten: Sie sahen alle ungewöhnlich wild aus für die damalige Zeit. Mit langen Haaren und Indianerkleidung.
Weshalb sich die Gangster Apachen nannten, konnte niemand genau sagen. Manche behaupteten, der Name sei ein Überbleibsel aus der Zeit um die Jahrhundertwende, als Buffalo Bill mit seiner Zirkustruppe die Stadt mit einem Besuch beehrt hatte, aber verbürgt war das nicht.
Die Apachen traten meist in Kriegsbemalung auf und scherten sich einen Dreck um Gesetz und Ordnung. Das war in den Kriegswirren gewesen, doch es gab sie noch immer.
Eine neue Generation.
Noch wilder, noch härter und abgezockter, denn den ersten Apachen waren Drogen fremd gewesen. Aber die Zeiten hatten sich geändert. Die Drogen gehörten heutzutage dazu, entsprechend gefährlicher war die neue Apachengeneration. Cresson, der Einsame, war eigentlich nie mit ihnen in Berührung gekommen. Er sah sie wohl des öfteren, kannte auch einige von ihnen namentlich,
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