Henkerin
schwanger geworden. De Bruce hatte das Kind nach dem Tod seiner Mutter zu einer Amme geben lassen und sich nicht weiter darum geschert, bis die Amme vor drei Jahren mit dem Jungen bei ihm aufgetaucht war, weil das Geld aufgebraucht war. Er hatte sich den kleinen Nicklas angesehen, festgestellt, dass der Junge seiner Mutter zum Glück in keiner Weise ähnelte, und hatte ihn beim Waffenschmied in die Lehre gegeben. Dort machte er sich gut. Natürlich würde de Bruce den Bastard nie offiziell als seinen Sohn anerkennen können, und einem Vergleich mit Gernot hielt Nicklas nicht stand. Doch de Bruce spürte, dass es ihm noch von Nutzen sein könnte, einen tüchtigen jungen Mann auf der Burg zu haben, in dessen Adern sein Blut floss.
Als Nicklas in der Schmiede verschwand, richtete de Bruce seine Aufmerksamkeit auf das Treiben unter sich. Alles schien in bester Ordnung zu sein. Die Geschäfte liefen blendend, sein Gesinde war gehorsam, schweigsam und fleißig. Und doch waren ihm die wichtigsten Dinge entglitten. Schwere Niederlagen hatte er einstecken müssen: Dieser verfluchte Reutlinger Karcher war ihm ein zweites Mal entkommen, und Eberhard von Säckingen spielte ein eigenes Spiel, das er noch nicht durchschaute. Gestern hatte der Hauptmann ihn gebeten, in einer vertraulichen Angelegenheit nach Urach reisen zu dürfen. In einer vertraulichen Angelegenheit! Hah! Was für ein seltsames Anliegen. Er würde von Säckingen ziehen lassen, doch nicht, ohne ihm ein paar Spione hinterherzuschicken.
De Bruce schob die Ärmel seines Gewands hoch und rieb die nackten Unterarme über das raue Mauerwerk. Nicht einmal seine Gemahlin hatte er unter Kontrolle. Im Gegenteil! Obwohl er sie behandelte wie den letzten Dreck, wurde er das Gefühl nicht los, dass sie ihn kontrollierte. Dass sie die Fäden in der Hand hielt. Die Vorstellung ließ ihn schwindeln. Er erhöhte den Druck auf seine Arme, um seine Gedanken in die Wirklichkeit zurückzuholen. Die zarte vernarbte Haut platzte auf, süßer Schmerz jagte bis hinauf in seine Schulter. Er stöhnte.
»Nein!«, stieß er hervor. »Niemand beherrscht mich! Ich werde euch allen zeigen, wer euer Herr ist. Ihr alle werdet vor mir im Dreck kriechen und um euer Leben winseln. Ich bin Graf Ottmar de Bruce, und kein Mensch auf der Welt stellt sich mir ungestraft in den Weg.«
Er hob die Arme an und schob behutsam die Ärmel seines Surcots über das blutige Fleisch. Heftig atmete er ein und aus, während das Brennen langsam nachließ und einem gleichmäßigen Pochen Platz machte. »Und mit dir, Wendel Füger, fange ich an. Die Falle ist aufgestellt. Diesmal werde ich selbst bereitstehen, um dir den Todesstoß zu versetzen.«
De Bruce blickte über das Aichtal hinweg nach Süden, in die Richtung, in der Reutlingen lag. Ein Adler kreiste über der Dornhalde. Er grinste. Der Adler war sein Wappentier. Ein gutes Omen. Auch wenn es ihn manchmal schwer prüfte, stand das Schicksal auf seiner Seite.
***
Die Luft duftete nach reifem Obst und würzigen Waldkräutern. Heute war kein gewöhnlicher Tag. Zum ersten Mal ging Melisande allein nach Urach. Auf dem Pfad durch den Wald begegnete ihr keine Seele. Das änderte sich allerdings rasch, als sie auf die Hülber Steige stieß. Ein Bursche trieb eine Herde Schafe ins Tal, ein Bauer hieb unter lauten Flüchen mit einem Lederriemen auf seinen Ochsen ein, der offenbar keine Lust hatte, den mit Fässern beladenen Karren den steilen Weg hinaufzuziehen. Wie Melisande strebten zahllose Mägde, Bauersfrauen und Tagelöhner auf Urach zu.
Melisande betrat die Stadt durch das Pfähler Tor. Der Wächter warf nicht einmal einen Blick in ihren Korb, sondern grüßte sie nur und ließ sie passieren. Sie war inzwischen bekannt in Urach, so bekannt, wie sie es nie hatte werden wollen. Und doch war es ein angenehmes Gefühl, als Frau geschätzt und mit Respekt behandelt zu werden. Melisande war zwar nur eine einfache Magd vom Fronhof, doch fast jeder, der ihr begegnete, neigte den Kopf oder signalisierte seinen Gruß mit einem freundlichen Blick.
Drei Tage waren seit dem Überfall auf der Ulmer Steige vergangen. Als Melisande endlich wieder allein gewesen war, hatte sie den Korb zu ihrem Versteck im Wald getragen und ihre Beute dort zurückgelassen. Lediglich das Schwert hatte sie zum Fronhof mitgenommen und unter ihrem Strohsack verborgen. Sie hatte die Papiere kurz durchgesehen, das meiste waren alte Urkunden, die offenbar abgekratzt und überschrieben werden
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