Henkerin
Halsabschneider ziehen einem den letzten Heller aus dem Beutel, und wofür?«, stieß er missmutig hervor. »Sie schmieren irgendwelche stinkenden Pasten auf die Wunden und zapfen einem das Blut aus dem Leib. Ich traue diesen Quacksalbern allesamt nicht.«
Melisande verkniff sich die Frage, wieso er ausgerechnet ihr vertraute. Die Antwort war naheliegend: Einer Magd musste man nicht viel zahlen. Die gab sich mit einem oder zwei Hellern zufrieden. Für diesen Betrag öffnete der Chirurgicus nicht einmal seine Haustür.
Es war schon nach Mittag, als Melisande das Haus des Nagelschmieds wieder verließ. Er hatte sich überschwänglich bei ihr bedankt, ihr sogar ein warmes Mittagsmahl angeboten, doch Melisande bezweifelte, dass seine Freude lange anhalten würde. Ihre Anweisung, die Wunde nur mit sauberen Tüchern zu verbinden, war auf taube Ohren gestoßen. Der Arm würde sich also vermutlich bald wieder entzünden, und so wie Meister Barthel die Welt sah, würde er ihr die Schuld geben und eine weitere kostenlose Behandlung fordern.
Melisande lief zurück in Richtung Marktplatz. Menschen tuschelten und hasteten an ihr vorbei, so als sei etwas vorgefallen. Neugierig eilte sie weiter. Doch auf dem Marktplatz gab es außer ein paar aufgeregt flüsternden Weibern und einem Knecht, der eine Karre mit Äpfeln vor sich her schob, nichts zu sehen.
In dem Augenblick fuhr vom Oberen Tor her ein Handelszug in die Stadt ein. Er bestand aus vier Wagen, die offenbar Weinfässer geladen hatten und von mindestens zwei Dutzend schwer bewaffneten Reitern und einem weiteren Dutzend Knechten mit gespannten Armbrüsten begleitet wurden.
Ganz vorn ritten zwei Männer in leichter Rüstung nebeneinander her. Sie waren ins Gespräch vertieft und schienen nicht zu merken, welches Aufsehen sie erregten. Auch sie trugen Waffen, das Schwert am Gürtel und die Armbrust auf dem Rücken. Der linke saß auf einem edlen Schimmel. Er hatte das Gesicht seinem Gesprächspartner zugewandt, sodass Melisande nur seine dunklen Locken sehen konnte. Der andere war ein wenig größer als der Gelockte und hatte sein aschblondes Haar zu einem Zopf zusammengebunden. Sein Gesicht war ernst und aufmerksam, und Melisande erkannte an seinen Augen, dass er sehr wohl mitbekam, was um ihn herum vorging. Sie hatte das Gefühl, ihn schon einmal gesehen zu haben, aber das lag womöglich daran, dass sein Gesicht abgesehen von einer kleinen Narbe am Kinn sehr gewöhnlich war.
Als sich der Schwarzgelockte plötzlich umwandte, trafen sich ihre Blicke. Melisande erstarrte. Es war Wendel Füger! Er war kräftiger und von gesünderer Gesichtsfarbe als bei ihrer letzten Begegnung, doch ohne Zweifel war dieser Reiter der Mann, den sie im Schelkopfstor in Esslingen gefoltert hatte.
Ein fragender Ausdruck lag in Wendels Gesicht, als suche er nach einer Erinnerung. Er fasste den Zügel fester, schien mit dem Gedanken zu spielen, den Schimmel anzuhalten. Doch er tat es nicht und ritt an ihr vorbei, ohne den Blick abzuwenden, ohne die Augen auch nur einen Herzschlag lang von den ihren zu lösen.
Melisandes Herz raste. Sie starrte dem Zug hinterher. Wie im Traum hörte sie das Tuscheln um sich herum.
»Das war der Reutlinger Karchersohn, der aus dem Kerker von Esslingen geflohen ist.«
»Ich habe gehört, dass er sich selbst vom Galgen geschnitten hat. Er ist ein Dämon. Hast du seinen Blick gesehen? Wenn der nicht mit dem Satan im Bund steht!«
»Unsinn! Ein Heiliger ist das, den hat der Herrgott selbst errettet. Er hat ihm auch die Füße nachwachsen lassen, die ihm der Scharfrichter abgehackt hatte.«
Melisande taumelte rückwärts und lehnte sich an eine Hauswand. Was war nur mit ihr los? Warum hatte sie sich nicht sofort abgewandt? Warum war sie nicht weggelaufen? Sie war eine Närrin. Anstatt ihre Haut zu retten, hatte sie den Karcher angeglotzt wie ein Schaf. Was, wenn er sie erkannt hatte? Wenn er sie verriet? Es wäre ein Leichtes für ihn, herauszufinden, wer sie war und wo sie lebte. Sie war in Urach nicht mehr sicher. So viel stand fest.
***
Seit Wochen hatte sich Wendel auf die Reise gefreut. Sein Vater hatte ihm genug Bewaffnete mitgegeben, um es mit einer Rotte Raubritter aufnehmen zu können, aber niemand war ihnen in die Quere gekommen. Wie in einem Triumphzug zogen sie in Urach ein, und dann stand da auf einmal dieses Mädchen.
Wendel schwirrte immer noch der Kopf. Dieses Gesicht! Diese Augen! Er könnte schwören, dass er sie schon einmal gesehen hatte.
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