Henkerin
Ihre Züge erschienen ihm so vertraut. Andererseits: Musste es nicht so sein, wenn man der großen Liebe begegnete? Musste es nicht genau so sein, dass man das Gefühl hatte, diesen Menschen schon sein ganzes Leben zu kennen? Hatte er das nicht immer wieder in den Gedichten der großen Meister gelesen?
Antonius riss ihn aus seinen Fantastereien. »Kam Euch die kleine rote Schnepfe auch so bekannt vor, Herr?«
Verwirrt sah Wendel ihn an. »Dir auch, Antonius?«
»Ja, verflucht.« Er spuckte auf den Boden. »Ich könnte schwören, dass ich sie schon einmal gesehen habe. Aber mir fällt ums Verrecken nicht ein, wo das gewesen sein könnte.«
Wendel blickte sich um, doch der Marktplatz mit dem Mädchen war längst hinter der Straßenbiegung verschwunden. »Vielleicht sieht sie nur jemandem ähnlich.«
»Ja, vielleicht.« Antonius zögerte. »Soll ich Erkundigungen einziehen, Herr?«
Wendel schluckte. Das war Unsinn. Wahnsinn. Die Kleine war eine einfache Magd, und er war mit einer der lieblichsten und reichsten Töchter Reutlingens verlobt. Es war Zeit, erwachsen zu werden. »Nein, Antonius. Das wird nicht nötig sein.« Er straffte die Schultern. »Und jetzt sollten wir uns bereithalten. Der Anstieg zur Burg Hohenurach ist äußerst steil und gefährlich. Wir müssen auf die Wagen und die Ladung Acht geben.«
Graf Ulrich hatte Füger’schen Wein angefordert. Und er hatte darauf bestanden, dass Wendel Füger das kostbare Getränk eigenhändig auf der Burg ablieferte. Angeblich wollte er den schneidigen jungen Karcher kennenlernen, der ihm den höchst lukrativen Vertrag abgeluchst hatte. Wendel jedoch wurde den Verdacht nicht los, dass der Bote, dieser Reinhard von Traunstein und Hofberg, etwas mit der Sache zu tun hatte. Vermutlich wartete er auf eine Gelegenheit, sich für die Demütigung zu rächen, die Wendel ihm bereitet hatte. Aber Wendel hatte nicht vor, sich provozieren zu lassen. Dieser Traunstein war ihm gleichgültig.
Es hatte ihn eine Menge Überredungskunst gekostet, seinen Vater dazu zu bewegen, ihn ziehen zu lassen. Mit Händen und Füßen hatte dieser sich dagegen gesträubt. Nicht einmal der exklusive Vertrag mit Graf Ulrich schien ihm das Risiko wert zu sein. Wendel hatte mit Engelszungen geredet, ihn darauf hingewiesen, dass seit dem Anschlag nun fast zwei Monate vergangen seien, dass man nicht einmal sicher sein könnte, ob es nicht doch gewöhnliche Räuber gewesen seien, die ihm und Antonius in der Gasse aufgelauert hatten. Schließlich hatte Antonius sich für Wendels Leben verbürgt, und Meister Oswald hatte Erhard Füger versichert, dass sein Schüler inzwischen ein leidlich guter Kämpfer war, den niemand so einfach niederstreckte. Doch Meister Oswald kannte Wendels Geheimnis nicht.
Die Sonne war bereits tief gesunken, als sie endlich den Burghof erreichten. Reinhard von Traunstein und Hofberg erwartete sie, diesmal ohne Rüstung, die Arme vor der breiten Brust verschränkt. Sein Gesicht war noch grauer als bei ihrer letzten Begegnung, und er wirkte missgestimmt, so als wäre ein Plan nicht aufgegangen, den er mühsam ausgeheckt hatte. Herrisch bellte er Befehle, gab Anweisungen, wohin die Fässer zu bringen seien, und zeigte den Männern ihr Nachtquartier. Zu Wendels Erstaunen weilte Graf Ulrich gar nicht auf der Burg.
»Er hat eine Versammlung seiner Lehnsgrafen einberufen«, erklärte Traunstein auf Wendels Frage. »Die sollte eigentlich auf Hohenurach stattfinden. Aber er hat es sich anders überlegt und die Grafen nach Stuttgart befohlen.«
»Euer Herr scheint voller Launen zu sein«, bemerkte Wendel.
Traunstein bedachte ihn mit einem bösen Blick. Ihm schien eine wenig freundliche Antwort auf der Zunge zu liegen. Doch statt auszusprechen, was er dachte, lud er Wendel ein, mit ihm zu Abend zu speisen.
Die Söldner ließen es sich im Hof bei reichhaltigem Essen und viel Wein gut gehen, doch Wendel verzog sich früh in die Kammer, die Traunstein ihm zugewiesen hatte. Nachdenklich legte er sich ins Bett, während Antonius sich auf dem Strohsack zu seinen Füßen ausstreckte. Beim Anblick des Weinkellers von Hohenurach hatte er sich an den Weinkeller auf der Adlerburg erinnert. Er war sich jetzt sicher, dass er am Abend des Festes ein zweites Mal dort gewesen war. Ein Bild hatte er vor Augen: einen langgestreckten Raum mit unzähligen Fässern zu beiden Seiten. Am Ende des Kellers befand sich eine Tür. Und dahinter?
Wendel biss sich auf die Unterlippe. Er war in diesem Raum
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