Henkerin
Strohmatratze und einer Decke aus Schafwolle nahm fast die Hälfte der Kammer ein, daneben stand eine schlichte gezimmerte Truhe für die Habseligkeiten des Gastes.
»Sehr schön«, murmelte de Willms.
»Möchtet Ihr nachher in der Schankstube zu Mittag speisen?«, fragte Wendel. »Dann sage ich dem Koch Bescheid.«
»Ja, das wäre mir sehr recht.« De Willms legte sein Bündel auf das Bett. »Und lasst mir bitte einen Krug Wein und eine Schüssel Wasser bringen.«
»Sehr wohl, mein Herr.« Wendel verneigte sich und schloss die Tür. Er stieg die Treppe hinab. Dieser Fremde übte eine merkwürdige Anziehungskraft auf ihn aus. Vielleicht lag es daran, dass er für seine jungen Jahre so ernst und ruhig war.
***
Das Leben als Mann war so viel einfacher. Keine unangenehmen Fragen, warum man allein reise, keine gierigen Blicke, keine anzüglichen Bemerkungen, nur zuvorkommende Höflichkeit. Melisande schaute sich in der Kammer um. Kein Dreck, keine Spinnweben. Das Stroh roch frisch, der Boden war mit Sand geschrubbt worden, wie man an den feinen Rillen im Holz erkennen konnte. Offensichtlich verstanden die Fügers ihr Geschäft.
Melisande legte sich auf das Bett und starrte an die Decke. Der erste Schritt war geschafft. Wendel hatte sie angegafft wie einen Geist, aber er hatte sie nicht erkannt. Und er hatte auch nicht gemerkt, dass sie eine Frau war.
Wieder zahlte es sich aus, dass Raimund so gründlich mit ihr geübt hatte. »Nicht die Hüften schwingen«, hatte er immer wieder gesagt. »Männer sind in der Hüfte steif. Und mach große Gesten! Stell dir vor, du kommst in einen Raum und willst den Eindruck vermitteln, dass alles darin dir gehört. So machen es Männer.«
Es hatte sie große Anstrengung gekostet, sich ständig so aufzuplustern, aber mit der Zeit war es ihr in Fleisch und Blut übergegangen. Bald konnte sie jederzeit allein durch ihre Körperhaltung als Mann oder Frau auftreten, und Raimund war verblüfft gewesen, als sie es ihm eines Tages vorgeführt hatte.
Sie seufzte. Raimund fehlte ihr so sehr, dass sie sich zusammenreißen musste, um nicht in Trübsal zu versinken. Dafür hatte sie ohnehin keine Zeit, denn ein Problem hatte sie nicht bedacht: In Esslingen war sie stumm gewesen. Als Merten de Willms jedoch musste sie sprechen. Zwar hatte sie für eine Frau eine recht dunkle Stimme, dennoch hatte sie Angst, sich zu verraten. Deshalb hatte sie auf dem Weg nach Reutlingen im Wald so lange geschrien, bis ihr die Stimme versagte. Sie hatte versucht, die Laute der Tiere nachzuahmen, den Schrei eines Raubvogels, das Fauchen einer Wildkatze, damit kein Reisender auf sie aufmerksam wurde. Nun war sie so heiser, dass erst einmal niemand ihre Stimme als die einer Frau erkennen konnte. Doch das würde nur wenige Tage anhalten. Danach musste sie sich etwas Neues einfallen lassen.
Es klopfte an die Tür.
Melisande setzte sich auf. »Ja, bitte?«, krächzte sie.
»Das Mittagsmahl ist fertig, Herr.«
An der Stimme erkannte sie, dass es die gleiche Magd war, die ihr am Vormittag die Waschschüssel und den Wein gebracht hatte. Bevor sie die Kammer verließ, vergewisserte sich Melisande, dass nichts Verräterisches herumlag. Das Henkersgewand und das Frauenkleid hatte sie mit wenigen Stichen in die Strohmatratze eingenäht, das Schwert hing griffbereit an einem Haken an der Wand. In der Stadt durfte sie es ohnehin nicht tragen.
In der Gaststube saßen ein paar ältere, vornehm gekleidete Herren, die offenbar etwas Ernstes zu besprechen hatten und Melisande nur einen flüchtigen Blick zuwarfen, bevor sie wieder die Köpfe zusammensteckten. An einem Tisch beim Fenster saß ein einzelner Gast, der einige Bögen Pergament mit Zeichnungen vor sich ausgebreitet hatte. An der Theke stand Wendel und lächelte ihr zu. Ihr Herz machte einen Satz.
Wendel trat vor. »Würdet Ihr mir die Ehre erweisen, mit mir zu speisen, Meister de Willms?«
Überrumpelt nickte Melisande. »Ja, gern, es ist auch mir eine Ehre.«
Er begleitete sie zu einem Tisch, der etwas abseits in einer Nische stand. Ein Knecht trug Suppe auf.
»Verratet Ihr mir, welche Geschäfte Euch nach Reutlingen führen, Meister de Willms?«, fragte Wendel, nachdem sie schweigend ein paar Löffel geschlürft hatten.
»Hm«, erwiderte Melisande, während sie fieberhaft überlegte, wie sie die Frage beantworten sollte.
»Oh«, sagte Wendel rasch. »Ich war vorschnell. Bitte verzeiht meine Neugier.«
»Das macht gar nichts, Meister Füger«, sagte
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