Henkerin
niemals offenbaren, wer sie wirklich war. Die Leute würden wissen wollen, wie und wo sie die letzten Jahre verbracht hatte. Sie würden Fragen stellen, Nachforschungen betreiben. Die Gefahr, dass sie herausfanden, dass sie als Henker in Esslingen gelebt hatte, war zu groß.
Sie öffnete die Tasche des Schreibers und zog die Dokumente hervor. Bisher hatte sie nur einen flüchtigen Blick hineingeworfen, zu sehr hatte sie sich geschämt, dass sie den Toten beraubt hatte. Sie faltete ein Dokument auf und begann zu lesen. Es war eine Urkunde, die den Besitzer als Merten de Willms, einen Schreiber aus Augsburg, auswies, der einige Jahre lang zuverlässig im Dienst der Stadt tätig gewesen war und dessen Fleiß und Geschick man zukünftigen Auftraggebern wärmstens anempfahl.
Melisande schloss die Augen. Merten de Willms. Melisande Wilhelmis. Der Herr im Himmel war ihr gnädig, hatte ihre Schritte gelenkt und ihr diesen Mann geschickt, damit sie unter seinem Namen in Reutlingen Unterschlupf finden konnte. Die Wege des Herrn waren wahrhaft unerforschlich: Dem einen nahm er das Leben, um den anderen zu retten.
***
Wendel humpelte in Begleitung von Antonius über den Hof zum Kelterhaus. Dort herrschte Hochbetrieb, denn die Weinlese war in vollem Gange. Das Haus bestand aus einem riesigen, auf Balken ruhenden Dach ohne Seitenwände. Unter dem Dach stand die Baumkelter, die älter war als Wendels Vater.
Als Wendel und Antonius das Kelterhaus betraten, hatten die Kelterknechte gerade den Baum geöffnet und angefangen, die Körbe voller Trauben auf den Presstisch zu entleeren. Mit einem Eimer fing einer von ihnen den Vorlass auf, den Saft, der bereits jetzt aus den Trauben sickerte. Hieraus würde später ein besonders edler Wein reifen.
Im Kelterhaus hing der schwere, süße Geruch der Früchte. Die Knechte schwitzten trotz der herbstlichen Kühle.
Wendel achtete darauf, dass sie ihre Arbeit ordentlich verrichteten. Gerade wollte er einem eine Anweisung zurufen, als er aus den Augenwinkeln sah, dass jemand vor der Wirtsstube stand. Er übergab die Aufsicht an einen der Knechte und humpelte zurück über den Hof.
»Wir haben noch nicht geöffnet«, rief er schon von weitem.
Der Fremde drehte sich zu ihm um. Er schien noch sehr jung, sein Gesicht war fein geschnitten und bartlos, die blauen Augen leuchteten hell. Etwas an dem Mann erschien Wendel vertraut, vielleicht war er schon einmal als Gast in der Füger’schen Weinstube eingekehrt.
»Seid gegrüßt.« Der Fremde verneigte sich. »Merten de Willms aus Augsburg. Ich suche eine Unterkunft. Ihr vermietet doch Unterkünfte? Private Kammern, in denen man für einige Tage oder Wochen wohnen kann?«
De Willms hatte eine merkwürdig heisere Stimme, so als sei er kürzlich erkältet gewesen. Bei diesem feuchten Herbstwetter kein Wunder. »Ja, sicherlich.« Wendel kratzte sich verlegen am Kopf. »Entschuldigt meine Unhöflichkeit, Meister de Willms. Ich dachte, Ihr wolltet in die Weinstube.«
De Willms lächelte. »Ich bin staubig und schmutzig von der Reise. Doch ich habe genügend Geld. Wenn Ihr möchtet, gebe ich Euch gern einige Kreuzer im Voraus.« Er griff nach seinem Beutel.
Wendel winkte ab. »Das erledigen wir später, Meister de Willms. Zuerst zeige ich Euch Eure Kammer. Habt Ihr Gepäck, mit dem ich Euch helfen kann?«
»Danke, nein. Nur mein Bündel.«
»Dann folgt mir, bitte. Ich gehe voraus und weise Euch den Weg. Die Stiege ist ein wenig eng, aber das Zimmer, das ich Euch anbieten kann, ist hell und geräumig. Gerade gestern ist es frei geworden.«
Wendel öffnete die Tür und stieg vor seinem Gast die Treppe hinauf. Antonius wollte den beiden folgen, doch Wendel bedeutete ihm, in der Schankstube zu warten.
Im Gegensatz zu den meisten anderen Herbergen, in denen die Gäste oft auf Strohsäcken in großen Sälen oder auf den Bänken der Schankstube nächtigten, boten die Fügers einige einzelne Schlafkammern für bessergestellte Reisende an. In ihrer Weinstube verkehrten daher meist wohlhabende Kaufleute auf der Durchreise oder die reicheren Handwerksmeister und adligen Familienoberhäupter der Stadt. Deshalb hatte Wendel selbst bisher gewöhnlich andere Gasthäuser aufgesucht, wo er sich mit seinen Freunden ungestört vergnügen konnte. In den letzten Wochen jedoch hatte er an derartigen Zerstreuungen keine Freude mehr gefunden.
»Bitte sehr!« Er öffnete die Tür zu einer kleinen Kammer, deren Fenster zum Hof hinausging. Ein einfaches Bett mit einer
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