Henkerin
stürzte aus dem Haus. Noch einmal suchte er den ganzen Hof ab. Jedes Gebäude, jeden Schuppen, auch wenn der noch so verfallen aussah. Nirgendwo fand er eine Spur der jungen Magd. Schließlich kehrte er zurück zu seinem Pferd. Das Mädchen musste seinen Mördern entkommen sein. Es war geflohen und hatte sich in den Wäldern versteckt.
Von Säckingen vergrub sein Gesicht in dem warmen, weichen Fell des Pferdes. Mechthild lebte. Am liebsten wäre er vor Dankbarkeit auf die Knie gefallen.
D IE V ERGELTUNG
S EPTEMBER 1330
Konrad Sempach lächelte höflich in alle Richtungen, als er sich aus der Kirche drängte. Die Sonntagsmesse war vorüber. Er hatte die Zeit genutzt, um gründlich nachzudenken, obwohl ihn das Getuschel seiner Töchter beinahe wahnsinnig gemacht hatte. Zumindest die Älteste war jetzt verlobt, die war er bald los. Und für die beiden jüngeren wollte er auch schnell einen Gatten finden. Sollte seine Frau ruhig nörgeln, die kleinste sei mit ihren dreizehn Jahren noch zu jung, er wusste aus eigener Erfahrung, dass ein Mädchen in dem Alter durchaus als Weib taugte. Unwillkürlich leckte er sich die Lippen.
Doch dann verzog er das Gesicht. In den letzten Wochen war einiges schiefgelaufen, und er hatte bittere Rückschläge erlitten. Nun endlich schien es wieder bergauf zu gehen. Da der Henker offiziell für tot erklärt worden war, hatte er seine Suche heimlich und auf eigene Rechnung fortgesetzt. Er war sicher, dass Melchior lebte und dass er ihn früher oder später aufspüren würde. Und seine Investition hatte sich ausgezahlt, er hatte eine Spur. Sein Spion Petter hatte das Narbengesicht in Urach aufgetrieben und ihm recht interessante Neuigkeiten entlockt. Leider lediglich Andeutungen, mit denen man nicht viel anfangen konnte.
Sempach hatte Petter daraufhin noch einmal nach Urach geschickt und ihm eine nicht unbeträchtliche Summe Geld mitgegeben, womit er die Zunge des Mannes lösen sollte. Doch der war nicht mehr dort gewesen, hatte sich in Luft aufgelöst. Petter hatte sich ein bisschen in der Stadt umgehört, jedoch nichts weiter erfahren. Zu dumm.
Am liebsten wäre Sempach selbst nach Urach gereist. Was für ein Triumph wäre es gewesen, mit dem Henker im Schlepptau nach Esslingen zurückzukehren. Damit hätte er den übrigen Ratsherren zeigen können, dass er recht gehabt hatte, und sie hätten endlich aufgehört, ihn schräg anzusehen. Erst kürzlich hatte Gerold von Türkheim ihn einen Besessenen geschimpft, weil er immer noch nach dem ketzerischen Bibelübersetzer suchte.
Doch immerhin wusste er nun, dass Melchior noch lebte und dass sein Aufenthaltsort gerade einmal eine Tagesreise von Esslingen entfernt lag. Jetzt galt es nur noch, sein Versteck ausfindig zu machen.
Sempach nickte Henner Langkoop und dessen Gemahlin zu und bog mit seiner Familie in die Alte Milchgasse. Die Mädchen kicherten albern, seine Frau erzählte etwas von der Haube, die die Gattin des Kunibert von Engern getragen hatte. Er hörte nicht zu. Stattdessen überlegte er, ob die Zeit reif war, Ekarius, dem neuen Henker, das Geschäft vorzuschlagen, das er eigentlich mit Melchior hatte machen wollen.
Im Haus duftete es nach einem köstlichen Mittagsmahl, was Sempach ein wenig versöhnlicher stimmte. Gott sei Dank war mit dem Ende der Pechsträhne auch sein Appetit zurückgekehrt.
Sie erwarteten die Familie des Bräutigams seiner Tochter zum Essen, und der Koch hatte sich mächtig ins Zeug gelegt. Er machte es sich im Lehnstuhl bequem und ließ sich einen Becher Wein bringen. Dann malte er sich aus, was er mit Melchior machen würde, falls er ihn allein in seinem Schlupfwinkel anträfe.
***
Melisande ließ sich erschöpft auf einem Stein nieder. Es war nicht mehr weit bis Reutlingen, schon ragte vor ihr die Achalm mit der mächtigen Burg auf. Am nächsten Tag würde sie zusammen mit dem morgendlichen Strom von Händlern, Bauersfrauen und Handwerkern durch das Tor in die Stadt gelangen und sich im Gasthaus der Fügers eine Unterkunft suchen. Nun wurde es Zeit, sich zu überlegen, in welcher Gestalt sie sich in Reutlingen niederlassen wollte.
Der Gedanke, sich einfach so einen neuen Namen und eine neue Lebensgeschichte zuzulegen, hatte etwas Reizvolles und etwas Erschreckendes zugleich. Dabei sehnte sie sich eigentlich nur danach, wieder Melisande Wilhelmis sein zu dürfen. Das allerdings war ihr für alle Zeiten verwehrt. Selbst wenn Ottmar de Bruce tot und ihr Leben nicht mehr in Gefahr war, durfte sie
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