Hennessy 02 - Rätselhafte Umarmung
während sie sich weiter über den Pfad schleppte. Immer wieder stolperte sie in ihren Gummistiefeln über den unebenen Boden. Wie konnte Rachel sie nur so hintergehen? Wie konnte die Tochter, für die sie sich aufgeopfert hatte, sie nur so schlecht behandeln?
Addie blieb stehen und schaute sich mit angstgeweiteten Augen um. Wohin sie auch blickte, alles sah vollkommen gleich aus. Sie presste sich die knochigen Hände auf die Wangen und sank schluchzend auf eine brüchige Steinbank.
Plötzlich sprang ein Mann aus dem Gebüsch. Erschrocken schaute sie zu ihm auf und schluchzte wieder.
»Addie«, sagte er und blieb stehen. Er war außer Atem, und sein Haar war zerzaust. »Ist alles in Ordnung?«
»Wer sind Sie?« wollte sie wissen.
»Ich bin es, Addie. Bryan Hennessy.«
»Ich kenne Sie nicht«, widersprach sie energisch und versuchte ihn wegzuscheuchen, als er näher kam und vor ihr in die Hocke ging. »Ich kenne Sie nicht. Verschwinden Sie! Gehen Sie weg, oder ich schreie!«
»Es ist alles in Ordnung, Addie«, sagte Bryan beruhigend. Ohne auch nur einmal den Blick von ihr zu wenden, streckte er den Arm aus und nahm ihre dürre Hand. »Keine Angst. Ich bin es, Hennessy.«
»Ich kenne Sie nicht!« rief sie. Panik überrollte sie wie eine Flutwelle, ängstlich starrte sie ihn an. Sie kämpfte gegen den furchtbaren Nebel an, der ihre Gedanken verhüllte, und suchte in ihrem Gedächtnis nach einer Erinnerung an dieses Gesicht. Irgendwie ahnte sie, daß sie diesen Mann kennen musste , deshalb suchte sie noch verzweifelter, etwas festzuhalten, das ihr immer wieder entschlüpfte. Tränen flössen ihr über die Wangen, und schließlich sank sie zu einem Häufchen Elend zusammen. »Ich kenne Sie nicht, ich kenne Sie nicht«, murmelte sie immer wieder.
Bryan setzte sich neben Addie auf die Bank und zog ihren dünnen, bebenden Körper in seine Arme. Er drückte sie an sich, strich ihr mit seiner großen Hand übers Haar, wiegte sie sanft hin und her und begann, leise zu singen. Es war ein schönes, altes Lied, das er einst in Schottland gelernt hatte; es handelte von einem blonden Mädchen namens Annie Laurie, das eine Stimme wie der seufzende Sommerwind hatte. Seine Stimme zitterte leicht, weil ihm Addies Schmerz und Verwirrung so naheging. Aber trotzdem sang er weiter, sang aus tiefstem Herzen, so wie damals, als er Serena gehalten und ihr vorgesungen hatte.
Rachel stand zitternd am Rande des lichten Fleckens im Irrgarten. Sie hatte ins Haus gehen und mit Addie über den Verkauf des Hauses sprechen wollen, aber sie hatte ihre Mutter nirgendwo finden können. Sie war in den Garten gelaufen, weil sie Bryan bitten wollte, ihr bei der Suche nach Addie zu helfen, und das Weinen hatte sie in das überwucherte Labyrinth gelockt.
Jetzt stand sie da wie angewurzelt, ohne sich bewegen oder auch nur atmen zu können. Sie schaute reglos auf das Bild, das sich ihr bot: Bryan mit geschlossenen Augen, aus denen sich zwei stille Tränen gestohlen hatten, der ihre Mutter hielt und wiegte; und Addie, die sich weinend von seinen starken Armen wiegen ließ.
»Ist ja schon gut, Addie«, murmelte Bryan und küsste die alte Frau auf die Schläfe. »Es macht gar nichts, wenn Sie mich nicht kennen. Ich helfe Ihnen trotzdem.«
Und in diesem Augenblick begriff Rachel. Während sie dastand, ihren Gefühlen völlig schutzlos ausgeliefert, mit bloßliegendem Herzen, mit der Wahrheit konfrontiert und ohne sich vor ihr verstecken zu können. Sie liebte Bryan Hennessy. Und die Frage war nicht, ob sie einen Mann wie ihn brauchen konnte oder nicht - die Frage war, ob sie einen Mann wie ihn überhaupt verdiente.
Kapitel 8
»Ist sie eingeschlafen?« Bryan schaute von den Zeitungen auf, die er auf dem Schreibtisch ausgebreitet hatte. Eine kleine Messinglampe erhellte die Arbeitsfläche. Nur der Kamin spendete noch Licht im Zimmer. Schatten hüpften über die dunkle Wandtäfelung.
»Endlich«, seufzte Rachel. Sie lehnte sich mit der Hüfte gegen den Schreibtisch und ließ ihre Schultern unter der Last ihrer Sorgen herabsinken. »Sie wollte mich nicht in ihr Zimmer lassen, aber ich habe einen Blick riskiert, als es endlich ruhig war. Sie liegt mit Gummistiefeln im Bett. Ich hätte mich gern reingeschlichen und sie ihr ausgezogen, aber sie hätte bestimmt mit einem Stein auf mich eingedroschen und die Polizei gerufen.«
Bryan zog die Stirn in Falten. »Wir sind also wieder auf Feld eins angelangt?«
»Ich würde Saltos schlagen, wenn wir überhaupt
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