Hera Lind
Designern Wiens. Meine Töchter wollten später auch modeln. Wir waren eine Traumfamilie. Aber so eine heile Welt kann auch Risse bekommen. Wann das geschehen war, wusste ich nicht zu sagen. Aber darüber wollte ich jetzt nicht nachdenken. Wie sagt Scarlett O’Hara in »Vom Winde verweht« immer so schön? »Verschieben wir es auf morgen! « Traurig räumte ich die leeren Gläser in die Spülmaschine. Ich wusste nur eines, nämlich dass ich bei der nächsten neugierigen Frage von Ursula Kobalik in Tränen ausgebrochen wäre.
LOTTA
Ich war schweißgebadet, als ich mich endlich tief verbeugte und den Beifall aus dem überfüllten Festsaal entgegennahm. Was für ein Glücksmoment! So etwas hatte diese Kleinstadt noch nicht erlebt! Christian Meran hatte seiner goldenen Querflöte Töne entlockt, die diese Musikschule noch nie gehört hatte. Als ich ihn bat, sich zu verbeugen, sprangen die Leute von ihren Sitzen auf. Da standen wir, Hand in Hand – Christian Meran und ich –, und verbeugten uns immer wieder. Der Jubel schwoll zu einem Pfeifen und Kreischen an, als meine drei Kinder aus dem Orchester nach vorn liefen und mir den bereits bekannten überdimensionalen Blumenstrauß überreichten, an dem viele gelbe Luftballons befestigt waren. »Wir sichern Ihren Kindern eine Zukunft!« Das wäre der Moment gewesen, in dem wir unsere Verlobung hätten bekanntgeben müssen. Eine winzige Sekunde lang zögerte ich. Ich brauchte nur die Hand zu heben, und dann würde der Beifall verstummen. Ich brauchte Jürgen nur das Zeichen zu geben, auf die Bühne zu kommen. Dann würde er die Stufen hinaufkeuchen, besitzerstolz den Arm um mich legen und laut verkünden: »Die Heilewelter Sparkasse und die Heilewelter Musikschule werden ihre erfolgreiche Partnerschaft nun auch noch mit dem Bund der Ehe besiegeln!« Und dann würde der brechend volle, festlich beleuchtete Saal noch mehr toben …
Nein. Der Moment war alles andere als perfekt.
Es war Christian Meran, mit dem ich auf der Bühne stand und mich verbeugte. Er strahlte und genoss den Applaus genauso wie ich. Er beklatschte anerkennend meine Schüler, darunter auch die zarte, schmale Viktoria im Rollstuhl, die wirklich beeindruckend tonrein Klarinette gespielt hatte. Ich ließ den Blick über das Publikum schweifen: In der ersten Reihe applaudierte stehend mein Lebensgefährte Jürgen Immekeppel. Er hatte stolz alles gefilmt und fuhr sich jetzt mit einem zerknüllten Taschentuch über die glänzende Stirn und die stoppeligen Wangen. Ein paar Taschentuchfusseln blieben darin hängen. Neben ihm saßen meine Eltern, die zwar nicht euphorisch klatschten, aber immerhin anwesend waren. Ich hatte auch schon Konzerte erlebt, da war Mutter Margot kopfschüttelnd durch den Mittelgang rausgegangen. Immerhin tippten ihre Zeigefinger wiederholt aneinander, und das war schon fast zu viel an Anerkennung. Mein Vater Dietrich nickte mir wohlwollend zu, während er sich die Ohren zuhielt. Er hasste Lärm jeder Art. Mutter Margot sprach bereits mit einer Dame hinter ihr. Es war Frau Ehrenreich, unsere Nachbarin. Wahrscheinlich spendete sie ihr das einzig seligmachende Sakrament kompetenter Konzertkritik.
Seitlich von der Bühne stand natürlich Bäckermeister Gerngroß, der so laut »Bravo, Vicki!« und »Zugabe, Klarinedde« brüllte, dass andere schon missbilligend zu ihm hinübersahen.
Das Blitzlichtgewitter der örtlichen Presse zuckte über unseren Köpfen, und immer wieder rief Justus Schaumschläger, der Fotograf und Reporter des Heilewelter Tagblatts : »Bitte noch mal alle Hand in Hand verbeugen, bitte die Blumen nicht vor die Gesichter, bitte die Solisten noch mal nach vorn, und die drei Thalgau-Kinder! Überreicht eurer Mutti noch mal den Strauß. Ja, so ist es schön! Und bitte der Wiener Philharmoniker noch mal ganz in groß. Schön strahlen und lachen! Ja, legt mal den Arm um eure Mutti … und der Wiener Philharmoniker bitte auch.« Als Jürgen mit seinen Sparkassenluftballons auch auf die Bühne kommen wollte, winkte Schaumschläger ab. »Bitte nur die Künstler … Ja, aber ganz dicht zusammen! Mal Wange an Wange, ruhig mal ein Küsschen! Der Flötist und die Dirigentin bitte!«
Aus den Augenwinkeln sah ich das belustigte Grinsen im Gesicht des Flötisten, das immer näher kam, während er den Arm um mich legte.
Bäckermeister Gerngroß wollte auch noch seine Viktoria ins Bild schieben, aber die wehrte sich und schlug mit ihrer Klarinette nach ihm. Ich mochte das
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