Hera Lind
die Idee gekommen war, aber auf einmal standen wir allein im schwach beleuchteten Treppenhaus, das zur Parkgarage führte. Unten hörten wir Autotüren schlagen und Reifen quietschen.
»Hier, trinken Sie das aus!«
»Aber ich kann Ihnen doch nicht Ihr Bier wegtrinken!«, widersprach ich lahm.
»Ich hab noch eins!« Verschmitzt grinsend zauberte Christian noch eine Flasche hervor und öffnete sie geschickt am Treppengeländer. Plopp! Ich sah so etwas wie jungenhaften Übermut in seinen Augen aufblitzen. Seit wann war ich eigent lich so unverfroren, auf einem Treppenabsatz Bier aus der Flasche zu trinken, während draußen mein Lebensgefährte, Mutter Margot und meine Kinder nach mir suchten? Ich trank. Dieser Christian war einfach hinreißend! Und so ganz anders als mein rührend ungeschickter Jürgen Immekeppel mit seinen platzenden Luftballons und seinen fragwürdigen Kosenamen. Wenn ich ihn bat, mich nicht »rattenscharfe Supermutter« zu nennen, hieß ich eben »Puschelchen«, »Speckhälschen«, »Schneckchen« oder »Gänsefürzchen«. Bis dann die »zuckersüße Sahneschnitte« dran war. Er wollte so cool sein wie eine leichte Riemchensandalette, war aber so plump wie ein ausgelatschter Pfadfinderschuh.
»Prost, rothaarige Lotta!«, sagte Christian plötzlich mit rauer Stimme und strich mir mit dem Handrücken eine vorwitzige Locke aus der Stirn. Ich hatte das Gefühl, als würden alle meine Sommersprossen explodieren. »Du bist viel zu schade für die Provinz. Weißt du das?«
Aus seinem Mund klang das einfach nur … gut. Durch meine beschlagene Brille starrte ich ihn wie hypnotisiert an. »Mehr, schrie der kleine Häwelmann. Leuchte, alter Mond, leuchte!«
»Prost, braunäugiger Christian«, stammelte ich und zitierte in Gedanken aus Goethes »Faust«: Könnt’ ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch, du bist so schön! »Ich muss zurück …« Lahm zeigte ich mit der Bierflasche auf die Tür. »Die warten schon auf mich!« Ungeschickt versuchte ich die schwere Eisentür zu öffnen.
»Du musst überhaupt nicht zurück«, widersprach Christian und zog mich einfach neben sich auf die kalte Treppenstufe. »Du brauchst jetzt einen Moment für dich. Kapiert das da drin denn keiner?«
»Ähm … nö.«
»Der biedere Sparkassenmensch mit den gelben Luftballons ist ja fast so nervig wie der Bäckermeister mit seiner Vicki! Und die robuste Dame, die deine Kinder erziehen will, hätte wohl am liebsten selbst auf der Bühne gestanden, was? Meine Güte, was hast du da für unsensible Leute an der Backe.«
Ich lächelte beschämt. »Bis auf den Bäckermeister sind das meine Angehörigen!«
»Oh.« Christian presste die Lippen zusammen. »Entschuldige, das konnte ich ja nicht ahnen.«
»Sie sind heute Abend alle etwas aufgeregt. Ist ja auch ein großer Tag.«
»Beim Beifall hat sich die Dame mit der Turmfrisur nach hinten umgedreht«, bemerkte Christian. »So als hätte sie dir den Erfolg gar nicht gegönnt.«
»Ach, das war sicher nur Zufall«, murmelte ich verlegen. »Meine Mutter hat nur Frau Ehrenreich begrüßt, unsere Nachbarin.«
»Zollen die dir überhaupt Respekt als Künstlerin?«, sagte Christian sanft.
»Na ja«, räusperte ich mich und spürte, wie ich am ganzen Hals rote Flecken bekam. »Respekt, also ich weiß nicht … Ich bin doch nicht die Hauptperson, das sind doch die Kinder. Ich bin nur eine kleine Musikschulleiterin, die froh sein kann, dass die Sparkasse ihr so einen großzügigen Kredit …«
»Ja, aber dass du in deiner Funktion auch noch Luftballons verteilen sollst …? Wen interessieren denn heute Abend Bausparverträge?«
»Hm«, machte ich und drückte gedankenverloren die kühle Bierflasche an meine Wange. Christians Worte waren Balsam für meine Seele. Und die breitete ihre Flügel aus. Wie der kleine Vogel, so als flöge sie nach Haus.
»Du bist keine kleine Musikschulleiterin. Du bist eine außergewöhnlich talentierte Dirigentin und Musikpädagogin!« Christian strahlte mich an. »Ich habe noch nie eine solche Begeisterung im Saal erlebt!«
»Das liegt an dir«, murmelte ich und war plötzlich rettungslos verknallt in den Mann.
»Du hast diese Begeisterung entfacht«, widersprach mir Christian. »Du allein!«
Ich sah ihn an, und auf einmal kam die ganze Anspannung der letzten Wochen in mir hoch. Am liebsten hätte ich mich Trost suchend an seine Hemdbrust geworfen. »Aus dir wird nie eine Dame!«, hörte ich Mutter Margot missbilligend zischen. »Wirf dich dem
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