Herbst - Zerfall
sagen, ob sie es an diesem Morgen schaffen würde, in Ellies Zimmer zu gehen, denn der Gestank war ekelerregend gewesen, als sie das letzte Mal nach ihr gesehen hatte. Nach dem halbherzig begonnenen Versuch, sie zu säubern, hatte sie eingesehen, dass die Verschmutzung zu stark war; Ellies Bettzeug war hochgradig verdreckt, doch wie Hollis bemerkt hatte, legte das arme Mädchen längst keinen Wert mehr darauf. Es hätte ihr weitaus mehr Qualen bereitet, hochgehoben und gereinigt zu werden, als in der eigenen Scheiße liegen zu bleiben.
Der kalte Wind blies durch einen leeren Fensterrahmen und fuhr ihr mit einem Schwall in das Gesicht, der sich anfühlte wie ein Schlag auf die Wange. Sie ging den letzten langen Flur nach unten und gelangte an die Tür zu Ellies Wohnung Um sie zu betreten war sie jedoch zu verängstigt; ebenso jagte ihr der Gedanke daran, draußen stehen zu bleiben oder ohne nach ihr gesehen zu haben zurück nach unten zu gehen, Angst ein. Sie konnte die anderen draußen auf dem Parkplatz hören, wo sie ihre Vorräte in den Bus und einen der Lastwagen luden. Flüchten wollte sie nicht, allerdings auch auf keinen Fall bleiben. Als sie am Morgen zuerst aus dem Fenster geblickt hatte, war die Absperrung am Fuße des Hügels beinahe verschwunden, da sie von Hunderten Leichen bedeckt wurde, denen es gelungen war, sich während der langen Stunden der eben erst zu Ende gegangenen Nacht darüber hinwegzuschleppen.
Während sie die Augen schloss und darum kämpfte, die Nerven zu bewahren, stieß Caron behutsam die Türe auf und blickte in den Raum. Keine Bewegung. Kein Geräusch. Sie ging auf Zehenspitzen in die Wohnung und spähte durch die Tür zum Schlafzimmer. Noch immer keine Bewegung. Himmel, der Geruch war noch schlimmer, als sie ihn in Erinnerung hatte – ein abgestandener Gestank nach Schweiß, Erbrochenem und Ausscheidungen, die sich mit den allgegenwärtigen, von draußen hereintreibenden Schwaden nach Tod und Verwesung vermischten. War Ellie tot? Sie rührte sich nicht. Vermutlich würde es für alle Betroffenen besser sein, wenn sie im Schlaf von ihnen gegangen sein würde. Caron ging ein paar Schritte weiter in das Schlafzimmer hinein und hielt die Medikamente mit einer Hand umklammert, während sie sich mit der anderen ein Taschentuch über Mund und Nase hielt.
»Ellie«, hauchte sie, »Ellie, Liebling, bist du wach?«
Ellie bewegte sich immer noch nicht. Caron schlich sich ein wenig näher heran, wollte jedoch nicht zu dicht herankommen. Sie trat mit dem Fuß gegen Ellies Puppe, die über den Fußboden gewirbelt wurde. Der Lärm ließ sie zurückschrecken und in die Dunkelheit blinzeln. Ellie lag auf der Seite und hatte ihr den Rücken zugedreht, der Oberkörper war unbedeckt. Noch immer konnte sie keine Bewegung erkennen. Atmete sie denn? Vielleicht sollte sie versuchen, sie zu berühren, um den Puls zu überprüfen ...
»Oh mein Gott!«, schrie sie überrascht, als sich Ellie mit einem plötzlichen, schmerzerfüllt mühevollen Stöhnen auf den Rücken warf. Caron war sofort darüber enttäuscht, dass sie immer noch am Leben war und fühlte gleich darauf heftige Schuldgefühle, da sie sich den Tod des Mädchens tatsächlich gewünscht hatte. Sie war sich nicht sicher, ob es daran lag, dass sie so von ihrem Elend erlöst worden wäre, oder daran, dass sie dies nicht für sie tun wollte.
Ellie stöhnte wieder, öffnete halb die Augen und murmelte etwas Unverständliches. Caron wich unbewusst zurück.
»Ich hole dir etwas Wasser«, flüsterte sie und ihre Augen füllten sich mit brennenden Tränen. Sie ging in Ellies Wohnzimmer und fand auf der Fensterbank eine kleine, halb leere Wasserflasche. Ohne die Augen von der Schlafzimmertür lösen zu können, zerbrach sie so viele Tabletten und Kapseln wie möglich, schüttete sie in das Wasser und schüttelte die Flasche. Eine halbe Sekunde lang erwog sie, es selbst zu trinken. Das war idiotisch. Sie durfte nicht so denken. Als sie die Flasche in ihrer Hand ansah, fragte sie sich, ob es tatsächlich irgendeine Wirkung haben oder Ellie einfach noch kränker machen würde? Sie schien sich nicht mehr um irgendjemanden kümmern zu können, würde ihr das Töten besser gelingen? Sie hatte ihren Sohn verloren, dann Anita und jetzt Ellie ... Als was für eine Mutter hatte sie sich entpuppt?
Obgleich sie sich hoch oben befand, konnte sie die anderen draußen im Freien wieder hören und wurde dadurch zum Handeln gezwungen. Sie war sich nicht im Klaren
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