Herbstbringer (German Edition)
danach wieder sprach, schwang eine dezente Note Belustigung in ihren Worten mit. »Wie wahrscheinlich wäre das?«
»Hier geht es nicht um Wahrscheinlichkeiten.« Michael behielt seine Stimme nur mit Mühe unter Kontrolle. Sie klang gehetzter, als er es jemals für möglich gehalten hatte. »Hier geht es um die Wahrheit. Um meine Bestimmung. Ich bin Alpha und Omega, der Anfang und das Ende.«
Wieder das Flackern, und nun konnte Michael das Gesicht einer Frau erkennen.
»Das wirst du auch sein. Es ist der Zeitpunkt des Omegas, in dem du irrst.«
Michael stockte. Weitere Fragen würden unbeantwortet bleiben, das wusste er ebenso gut wie die einfache, aber beunruhigende Tatsache, dass ihm die Antworten nicht gefallen würden.
»Nosophoros.« Er redete unbeirrt weiter und ignorierte ihre letzte Äußerung. »Wieso hast du mir sein Kommen verheimlicht?«
Pythias rätselhafte Augen blickten ihn an. Ein Wirbel pechschwarzer Krähenflügel, ein schattig-rauchiges Etwas umgab ihr Gesicht, hüllte ihre zierliche Gestalt ein. Niemand wurde aus ihrem Gesichtsausdruck schlau. Nicht einmal Michael. »Er spielt in der Zukunft des Herbstbringers eine große Rolle.«
Michael schnaubte ein verächtliches Lachen in die weihrauchschwangere Dunkelheit. »Allerdings. Wenn es nach ihm ginge, wohl auch die letzte. So wie bei vielen von uns.«
»Er wird maßgeblich dafür verantwortlich sein, dass aus dem Herbstbringer das wird, was ihr alle fürchtet.«
Die Worte sanken in Michaels Verstand wie Steine in flüssiges Kerzenwachs. »Was wir alle fürchten?«, wiederholte er heiser. Zum ersten Mal setzte ihm das penetrant süßliche Aroma des Weihrauchs zu. »Wir fürchten höchstens, dass sie einem der anderen zuerst in die Hände fällt. Hätte ich früher von Nosophoros gewusst, wäre diese Furcht um einiges erträglicher. Der beste Bluthund ist nichts gegen seinen hasserfüllten Spürsinn. Doch du hast mich verraten.«
»Nein, Michael, ich habe dich nicht verraten.« Der lebendige Schleier aus reinstem Schwarz war dem weißen Priesterinnengewand gewichen, in dem Michael sie das erste Mal gesehen hatte. Sie drehte ihm den Rücken zu, um etwas auf den Altar zu legen. »Ich habe euch alle verraten. Ich wusste davon und habe doch nichts gesagt. Das Kommen von Nosophoros ist der Wendepunkt der Zeiten. So widersprüchlich das klingen mag. Er ist sehr wichtig.«
»Wofür?«
»Damit sie leben kann.«
Eine Weile – Emily konnte beim besten Willen nicht sagen, ob Sekunden oder Minuten verstrichen – passierte gar nichts. Dann ertönte ein Geräusch, als würde ein Baum sein gesamtes Blattwerk auf einmal abschütteln.
Du weißt, wer wir sind. Sonst würden wir es nicht wissen.
Ratlos blickte Emily zwischen den Laubwesen hin und her. Fortwährend änderten sie ihre Form, sahen im einen Moment fast menschlich, im nächsten wieder verzerrt und unförmig aus. Soweit Emily erkennen konnte, bestanden sie tatsächlich aus Laub, verwoben sich immer wieder ineinander und hüllten sie in sanfte Raschelgeräusche.
»Ihr habt etwas mit mir zu tun, richtig? Mit meiner Vergangenheit.«
Das Ausbleiben einer Reaktion wertete Emily als Ja. Es fiel ihr schwer, sich auf irgendetwas anderes zu konzentrieren als auf die unwirklich wabernden Laubgestalten.
»Ihr wisst, wer ich wirklich bin.« Es war keine Frage. Es war eine Feststellung.
Wie auf ein unsichtbares Kommando hin umringten sie die drei Wesen, schlossen sie vollständig in einer soliden Blätterwand ein.
Wir wissen nur, was du weißt. Unsere Gedanken sind deine Gedanken. Wir sind deine Gedanken. Gedanken, an die du dich nicht mehr erinnern kannst. Gedanken, die du vergessen musstest, um zu überleben. Gedanken, die gefährlich sind. Gedanken, die wichtig sind.
Längst war aus den drei Laubwesen wieder ein rotierender Kreisel langsam verrottender Blätter geworden. Die Worte kamen von allen Seiten.
»Wo wart ihr all die Jahre?«
In Sicherheit. Wir waren immer bei dir. Du warst es, die nicht bei uns war. Doch wir wussten, dass du uns finden würdest.
»Also seid ihr … ein Teil von mir?«
Wir sind deine Gedanken. Die letzten Gedanken des Septembers. Der letzte Sommersonnenstrahl. In uns wie auch in dir ruht der ewige Herbst. Wir sind deine Seele.
»Aber wieso seid ihr von mir getrennt worden?«
Weil es der einzige Weg war, dein Überleben zu sichern, als der Fluch ausgesprochen wurde. Weil du eine der wenigen deiner Art bist, die eine Seele besitzen. Du wirst verstehen, sobald wir
Weitere Kostenlose Bücher