Herbstbringer (German Edition)
zuzuhören, eilte sie zurück in ihr Zimmer. Sie setzte sich an ihre Kommode und begann unter Tränen, sich ihre spitzen Schneidezähne abzufeilen.
Als wäre nichts gewesen, fand sie sich im Wald wieder. Die drei Blätterwesen standen ihr stumm gegenüber. Sie war fast ein wenig enttäuscht, nichts wirklich Neues erfahren zu haben.
»Ich wusste bereits, dass ich anders war. Bin. Ich weiß nur nicht, wieso.«
Die drei Kreaturen sprachen wie aus einem Mund. Dieser Gedanke ist von größter Bedeutung. Wir haben ihn sicher verwahrt, um ihn beizeiten wieder seinem angestammten Platz zuführen zu können. Du wirst verstehen, sobald wir wieder eins sind.
Emily nickte entschlossen. Diesmal war sie darauf gefasst, als sich die Blätterflut über ihr Haupt ergoss.
Seit Tagen hatte sie niemanden zu Gesicht bekommen. Ihr Vater hatte sie in eine fensterlose, feuchte Zelle im unbewohnten Teil des Anwesens gesperrt und jeglichen Kontakt zu ihr unter Todesstrafe gestellt.
Ihre Mutter hatte nicht einmal das abgehalten. »Mein Kind, wieso hast du das nur getan? Hättest du nicht dieses eine Mal nachgeben können?«, wisperte sie an der Tür. Aus dem Kommen ihrer Mutter schloss sie, dass es längst Nacht sein musste.
»Nein. Mutter, du weißt doch, dass ich so nicht leben kann. Ich musste es tun.«
Leises Schluchzen drang durch die massive Holztür. »Ich weiß. Ich weiß, mein Engel, und ich bewundere dich zutiefst dafür. Du besitzt eine Kraft, die ich niemals hatte. Und doch wünschte ich, du hättest deinem Vater gehorcht. Schlimme Dinge sind passiert. Und noch schlimmere werden passieren.«
»Ich weiß. Sie werden mich töten, nicht wahr?«
Die lange Stille, die ihren Worten folgte, ließ sie bereits befürchten, dass sich ihre Mutter davongeschlichen hatte. Der plötzliche Ausbruch erschreckte sie zutiefst. »Oh Levana! Sie werden dich nicht töten. Damit käme dein Vater in der Gesellschaft niemals davon. Sie werden etwas viel Schlimmeres mit dir anstellen. Und ich weiß nicht, wie ich das verkraften soll.«
»Etwas Schlimmeres?« Ihre Stimme klang urplötzlich brüchig, ängstlich.
»Du hast eine unaussprechliche Tat begangen. Du bist eine Ausgestoßene, eine Rebellin. Dein Vater wird alles tun, um diese Schmach so gut es geht abzumildern. Er … er sieht dich nicht länger als seine Tochter. Der Rat spricht von einem Fluch, den du über dich und unsere Familie gebracht hast.«
»Was ist denn schlimmer als der Tod?« Jegliche Stärke war aus ihrer Stimme gewichen. Sie sank an der Zellenwand hinab.
»Es kommt jemand«, zischte ihre Mutter, ohne auf die Frage einzugehen, die wie ein unheilvolles Totem in ihrer Zelle loderte. »Ich liebe dich«, hauchte sie noch. Dann war sie wieder allein. Allein mit einer bohrenden Frage.
Was war schlimmer als der Tod?
Sie öffnete die Augen. Erleichtert blickte sie in die Kronen sachte wiegender Tannen, die sich dem Himmel entgegenreckten. Vereinzelt schafften es ferne Sterne, die Wolkendecke zu durchdringen.
Es war vorbei.
Wie konnte sie gerade eben noch enttäuscht darüber gewesen sein, keine neuen Schreckensnachrichten aus ihrem früheren Leben übermittelt bekommen zu haben?
Was war schlimmer als der Tod?
Diese Frage hallte dumpf in ihrem Inneren nach wie eine Totenglocke.
Das Schlimmste war das durchdringende Gefühl, etwas das erste Mal zu sehen und doch tief in sich zu spüren, es am eigenen Leib erfahren zu haben. Eine Art allumfassendes Déjà-vu, das sie nie mehr loslassen würde. Sie hatte diese Unterhaltung tatsächlich geführt. Sie war tatsächlich in dieser feuchten Zelle gefangen gewesen und hatte auf das Unausweichliche gewartet.
Sie richtete sich auf und blickte auf das immerzu seine Gestalt ändernde Trio vor sich. Genauso gut hätte sie versuchen können, aus einer Hecke schlau zu werden. Die Wesen machten keine Anstalten, das Wort zu ergreifen.
Es erschien ihr als das einzig Richtige, die nagende Frage auszusprechen, sie von ihrem früheren Leben ins Hier und Jetzt zu holen. »Was ist schlimmer als der Tod?«
Du weißt es bereits.
»Nein, weiß ich n…« Sie verstummte. Von allen Seiten stürmte Verständnis auf sie ein. Eine Strafe, schlimmer als der Tod. Ihr unerklärliches Auftauchen. Die Holzreste. Ihr merkwürdiges Wissen.
»Doch«, hauchte sie. »Sie haben mich lebendig begraben.«
Blätter umschwirrten sie wie besorgte Vögel. Als die Wesen wieder sprachen, klangen ihre Stimmen beruhigend. Wir verließen dich und nahmen jegliche
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