Herbstbringer (German Edition)
wieder eins sind. Bist du bereit dafür?
Wie in Trance nickte Emily. Sie wusste, dass sie keine andere Wahl hatte.
Ohrenbetäubend laut pumpte ihr Herz Blut durch ihre Adern.
Laub stürzte von allen Seiten auf sie ein wie die sanft raschelnde Flut eines gebrochenen Damms.
Michael war überrumpelt. Bei aller Raffinesse, bei aller Geistesgegenwärtigkeit hätte er es niemals für möglich gehalten, dass jemand tatsächlich Interesse am Überleben des Mädchens haben könnte. Es mochte diejenigen unter ihnen geben, die das Haupt der Rebellin nicht sofort auf ihre Standarten stecken wollten. Sie hatten andere Verwendung für sie. Doch was konnte Pythia an ihrem Leben liegen?
»Ich weiß, dass ich mich nicht verhört habe und dass du das Gesagte genau so gemeint hast. Beantworte mir nur eine Frage: Warum?«
Pythia drehte sich zu ihm um. Ihre Augen glänzten. »Weil sie eine Seele hat.«
Michael schüttelte unmerklich den Kopf. Er ließ seine Hand in die Manteltasche gleiten. »Und hier, am Ende unseres gemeinsamen Weges, irrst du dich zum ersten Mal. Keiner von uns hatte je eine Seele. Das war der Preis, den wir für diese Welt gezahlt haben.«
Die Klinge zerfetzte den Weihrauchdunst. Bedauern schoss durch sein Herz, als Pythia ohne ein Wimmern auf den groben Steinfliesen in sich zusammensank.
13
Sie hasste es, wenn ihre Eltern sich stritten. Und besonders schlimm war es, wenn sie sich ihretwegen stritten. Wie immer, wenn laute Stimmen sie geweckt hatten, kauerte sie auf der obersten Treppenstufe, gab keinen Laut von sich und hoffte, dass die Auseinandersetzung schnell vorüberging.
In letzter Zeit musste sie sehr oft und sehr lange auf der obersten Stufe sitzen. Mehr als einmal hatte eine besonders lange Diskussion dazu geführt, dass sie die Treppe zum Knarren gebracht und den geballten Zorn ihres Vaters auf sich gezogen hatte.
Heute bestand diese Gefahr nicht. Dafür war der Geräuschpegel bei Weitem zu hoch.
»Kannst du sie nicht einfach in Ruhe lassen? Siehst du nicht, dass sie sich durch deine Strafen nur noch weiter zurückzieht?«
»Meine Strafen? Wie du siehst, habe ich sie nicht hart genug bestraft. Sie zieht dieses alberne Spiel schon viel zu lange durch. Man redet bereits über mich, und das werde ich nicht länger dulden!«
»Aber musst du sie denn gleich zwingen, den Jungen umzubringen?«
Ihr Vater zischte abfällig. »Als wäre es das erste Leben, das sie rauben würde. Früher hat sich das Gör auch nicht so angestellt. Nein, ich habe entschieden. Sie muss ihn töten, um zu beweisen, dass unsere Familie nicht zu einem Hort der Schwäche verkommen ist. Willst du mir da widersprechen?«
»Natürlich nicht«, versicherte ihre Mutter unterwürfig. Levana ballte die Fäuste um die Streben des Treppengeländers, bis ihre Knöchel weiß hervortraten. Warum tat er das? Der Erniedrigung ihrer Mutter beiwohnen zu müssen war schwerer zu ertragen, als die Aussicht auf eine weitere harte Bestrafung für ihren Ungehorsam. Seit Wochen hatte sie keinen Menschen mehr getötet, kein Blut getrunken. Anfangs hatte sie sich ohne das Blut schwach gefühlt, hatte aber bald darauf festgestellt, dass es keinerlei praktischen Nutzen für sie hatte.
Ein weiteres Ammenmärchen ihres Vaters.
Der Sonnenschein war deutlich schwieriger gewesen. Ohne jemals Schmerzen empfunden zu haben, hatte sie das Haus in der glühenden Mittagssonne eines unbarmherzig heißen Augusttages verlassen. Sie war überzeugt gewesen, auf dem aufgeheizten Asphalt Londons zu sterben. Stattdessen hatte sie sich wenig später vor dem entrüsteten Familientribunal wiedergefunden.
Ihr Vater hatte daraufhin alles versucht, um sie auf den richtigen Weg zurückzuführen. Oder fast alles. Einzig väterliche Liebe hatte er in seinem Bestreben, sie wieder zu einer ehrbaren Vampirin zu machen, außen vor gelassen.
Und nun das. Sie wusste, was er vorhatte. Sie wusste, dass es die letzte Möglichkeit war, sein Gesicht zu wahren. Sie wusste auch, dass sie sich widersetzen würde.
Sie konnte nicht anders.
Alles in ihr widerstrebte dem, was sie war. Ihrer eigenen Art begegnete sie mit einer tiefen Abscheu, die sie nicht kontrollieren konnte. Ihr ganzes Sein drängte gegen die Gepflogenheiten, die Sitten und Gesetze, und ließ Scham und Übelkeit in ihr aufsteigen, wenn sie an ihre eigene Vergangenheit dachte.
Sie mochte die Vergangenheit nicht ändern können. Doch sie würde die Zukunft ändern. Ohne länger dem herrischen Organ ihres Vaters
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