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Herbstbringer (German Edition)

Herbstbringer (German Edition)

Titel: Herbstbringer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Björn Springorum
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Stille. Jede Erinnerung an die Laubwesen war der Vergänglichkeit anheimgefallen.
    Es war vorbei.
    Wie ein Taucher, der nach einem ausgiebigen Tauchgang die Wasseroberfläche durchbricht, kam Emily zu sich. Als ihr bewusst wurde, wo sie sich befand, wurde ihr schlagartig kalt. Wie ferngesteuert setzte sie sich in Bewegung. Ohne den geringsten Gedanken an die Szenen zu verschwenden, die sich gerade abgespielt hatten, betrat sie die Wiese. Sie lenkte ihre nackten Füße über das feuchte Gras, hinein ins Wohnzimmer und über die Treppe in ihr Zimmer. Sie war noch nie so müde gewesen. Schlafen. Sie wollte einfach nur schlafen.



14
    »Radcliffe?«, rief Michael in schneidendem Tonfall, während er sich schnellen Schrittes zum Salon aufmachte.
    Weit über ein Jahrhundert hatte die Zeit stillgestanden – und plötzlich musste alles ganz schnell gehen. Michael hatte einige Stunden benötigt, um wieder einen klaren Gedanken fassen zu können. Nach diesem seltenen Moment der Schwäche war er nun wieder Herr seiner Sinne.
    Noch war ihm niemand zuvorgekommen. Noch hatte sie sich nicht zu erkennen gegeben. Er wusste, welches große Wagnis dieses Spiel auf Zeit bislang dargestellt hatte. Ein Grund, es nicht unnötig zu verlängern.
    »Sir?«
    »Eine Flasche Brandy und die Chronik. Dann wünsche ich, nicht gestört zu werden.«
    Der Butler deutete ein Nicken an. »Sehr wohl. Soll ich die beiden wartenden Damen wegschicken, Sir?«
    Michael fletschte die Zähne. »Das wäre übereilt. Sie sollen warten.« Er verzog die Lippen zu einem humorlosen Grinsen. »Ich rufe nach ihnen, wenn mir danach ist.«
    »Ganz wie Sie wünschen, Sir.« Lautlos verließ Radcliffe den Raum.
    Wenig später war Michael bereits in die Chronik vertieft. Nicht, dass er nicht gewusst hatte, was in ihr geschrieben stand. Nach heute Nacht hatte er aber das erste Mal das Gefühl, etwas übersehen zu haben. Alles andere ergab keinen Sinn. Wie sollte das Orakel den Herbstbringer schützen, indem es ihm das Auftauchen dieses lästigen Nosophoros verheimlichte? Damit hatte sie lediglich die Chance erhöht, dass sie dieser Kreatur zuerst in die Hände fiel. Ihr, die die letzten Jahrzehnte an den verborgenen Rändern der Welt verbracht hatte, lauernd, wartend, voller Hass. Nosophoros war seit der Verhängung des Fluches vom Antlitz dieser Welt ebenso verschwunden wie aus den Geschichtsbüchern, ein Phantom, das nur durch Schreckensmeldungen auf allen Kontinenten verhinderte, gänzlich in Vergessenheit zu geraten.
    Nosophoros, der Pestbringer. Nosferatu, wie er von den verängstigten Bauern bei seiner Ankunft in Rumänien genannt worden war. Michael hatte amüsiert beobachtet, wie Nosophoros unfreiwillig zu Weltruhm gelangte, weil dieser deutsche Regisseur Murnau einen Film über ihn gedreht hatte. Anschließend hatte er die Abgeschiedenheit der höchsten Gebirge oder das Herz des tiefsten Waldes bevorzugt und seine Rache gehegt und gepflegt wie ein neugeborenes Kind. Sein Auftauchen war kein Zufall. Eine Zeitenwende stand bevor. Die Offenbarung der Rebellin nahte.
    Eines stand für ihn fest: Das Orakel hatte dem Herbstbringer keinen Gefallen damit getan, Michael diese Informationen vorzuenthalten. Und genau das machte ihn stutzig. Sie hätte doch wissen müssen, dass Nosophoros ein ebenso gefährlicher Faktor war.
    Wieder und wieder las er die Berichte über sein Versprechen, den Herbstbringer mit seinen eigenen Händen zu töten. Er hatte es geschworen. Selbst ohne diese Schwurbindung konnte Michael ausschließen, dass ausgerechnet Nosophoros in der kargen Einsamkeit seine Meinung geändert hatte und der Rebellin nicht länger nach dem bisschen Leben trachtete, das ihr geblieben war.
    Es gab nur einen Weg: Er musste Nosophoros aufspüren. Auch wenn das bedeutete, dass er seine eigene Anwesenheit preisgeben musste. Er musste alles auf eine Karte setzen. Wenn das Orakel wirklich die Wahrheit gesagt hatte, wusste er, wie er ihn finden würde. Oder besser gesagt, was er dafür tun musste.
    »Radcliffe, ich gehe aus«, verkündete er, stürzte den Brandy hinunter und stürmte aus dem Saal.
    Der Butler räusperte sich auf eine unaufdringliche Art, die jahrelanges Training voraussetzte. »Sir?«
    »Ich weiß. Lass sie in die Docklands bringen. Du weißt, wohin.«
    War das der Hauch eines Lächelns, der über die Züge des Dieners huschte? »Essen Sie auswärts, Sir?«
    Michael schnaubte nur. Dann verschlang ihn der trübe Londoner Nebel.

    »Hey, was hältst du davon,

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