Herbstbringer (German Edition)
alte Mann, der da aus der Dämmerung auf sie zukam, hätte mit seiner Laterne und dem gebückten Gang gut einen Nachtwächter aus Blakes London abgegeben. »Sosehr ich Ihre Lesefreude in diesen modernen Zeiten zu schätzen weiß, muss ich Sie dennoch bitten, zu gehen. Meine Bücher und ich möchten Feierabend machen.«
Seufzend klappte sie das schwere Buch zu und blickte zu dem greisen Bibliothekar auf. »Na schön. Ich komme morgen wieder.«
Der alte Mann starrte Emily mit weit aufgerissenen Augen an. Seine Laterne warf ein flackerndes Licht auf sie, und sie stellte verwundert fest, dass seine Hand zitterte. Was hatte sie denn nun wieder falsch gemacht?
»Geht es Ihnen nicht gut?« Was sollte sie tun, wenn der Bibliothekar vor ihren Augen einen Herzanfall bekam? Außer ihr war niemand mehr hier.
Auf dem faltigen Gesicht, das Emily trotz der beklemmenden Situation an einen alten Baumstamm erinnerte, war ein Kampf der Emotionen entbrannt. Furcht hatte anfangs die Oberhand, wurde dann von Zorn und Unglauben abgelöst.
»Unmöglich«, stammelte er nach einer gefühlten Ewigkeit. Es schien, als habe er große Mühe, die Augen von der eingeschüchterten Emily abzuwenden. Dann eilte er davon, so schnell es seine Beine zuließen, und ließ sie verdutzt in der Dunkelheit zurück. Erst nachdem seine gehetzten Schritte schon lange in der Ferne der Bibliothek verklungen waren, verließ sie das Gebäude.
»Ich finde Mr Graham ja sowieso komisch«, war Sophies erster Kommentar, nachdem Emily ihr alles erzählt hatte. Sie hatte eine sehr trübe Busfahrt durch trübes Wetter und ein Abendessen hinter sich bringen müssen, bevor sie allein mit ihrer Schwester sprechen konnte.
»Einmal hat er mich tagelang durch die Gänge verfolgt, nur weil ich ein Buch falsch einsortiert hatte. Das war vielleicht gruselig.«
»Aber ich habe ja nicht mal ein Buch falsch einsortiert! Und anfangs war er auch sehr freundlich. Erst, als er mich angesehen hat, reagierte er, als wäre ich ein Geist oder der Tod persönlich. Dabei habe ich ihn noch nie zuvor gesehen!«
»Na ja, wie der Tod siehst du nicht gerade aus. Wie ein Geist schon eher, so blass wie du bist«, witzelte Sophie. »Hey, vielleicht hat er mitbekommen, was du da neulich über König William erzählt hast. Wer weiß – bei seinem Alter könnte er ihn fast persönlich gekannt haben und fand deine Anschuldigungen gar nicht lustig.«
Emily seufzte. Das würde sie wohl nie wieder loswerden.
»An meinen Auftritt in Geschichte habe ich auch schon gedacht. Aber sein Blick … du hättest seinen Blick sehen müssen. Er hatte Angst vor mir!«
»Er ist ein sehr alter Mann, das darfst du nicht vergessen. Wir fragen am Samstag einfach Jake, er weiß vielleicht, was sich sein Opa dabei gedacht hat.«
»Der Bibliothekar ist Jakes Großvater?« Es war doch immer wieder erstaunlich: Die wirklich interessanten Fakten tauschte Sophie regelmäßig gegen langweiligen Klatsch und Tratsch aus.
Ihrer ersten Begegnung mit Jake blickte sie mittlerweile vorsichtig optimistisch entgegen. Nach allem, was Sophie erzählt hatte, schien er wirklich nett zu sein.
Sophie holte sie aus ihren Gedanken. »Komm, lass uns Mom und Dad überreden, uns zu der Horrornacht ins Kino gehen zu lassen. Sie waren vorhin ganz gut drauf.«
Emilys flehendes »aber die ist doch erst nächste Woche« wurde natürlich überhört. Seufzend schlurfte sie ihrer Schwester hinterher.
Die nächsten Tage verliefen ruhiger, und der Vorfall in der Geschichtsstunde wurde von anderem Tratsch verdrängt. Außerdem hatte sie Jakes Großvater nach seiner seltsamen Reaktion nicht wieder gesehen – obwohl sie beinahe täglich zwischen den hohen Regalen herumspazierte und ihre Nase in dieses oder jenes Buch steckte.
Kaum hatte sich Emily jedoch selbst wieder davon überzeugt, dass mit ihr alles in Ordnung war, wurden die Albträume schlimmer. Sobald sie die Augen schloss, lauerten sie auf sie. Bilder von blutunterlaufenen Augen, die sie flehend und zu Tode geängstigt anstarrten, düstere Schattenfiguren in hohen Räumen, unheilvolles Gelächter.
Emily nahm es hin. Immerhin konnte sie das vor anderen Menschen verborgen halten. Und wenn sie dafür keine weiteren peinlichen Szenen erdulden musste, würde sie gut damit leben können.
Trotzdem freute sie sich am Ende der zweiten Schulwoche mehr denn je auf das Wochenende. Sie war nämlich inzwischen ziemlich neugierig auf diesen Jake.
Erstaunlicherweise teilte ausgerechnet Sophie Emilys
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